Spielzeit: 73:15 Medium: CD Label: Sireena Records, 2013 (1972-1984) Stil: Krautrock    Review vom 02.04.2013 Ulli Heiser

Was gibt es besseres, als die Tristesse am frühen Karfreitagmorgen mit einer dampfenden Tasse Kaffee zu bekämpfen? Der Frühling im Gewand des Winters macht die warme Küche zu einer heimeligen Stube und die Seele dürstet nach einem Pedant zum Bohnentrank.
Musik muss her und am besten eine, die ablenkt von den unchristlichen Temperaturen vor dem Fenster. Oder eine, die einen im Warmen genüsslich nach Draußen blicken und den beginnenden Tag genießen lässt.

"Live Kraut" ist so eine Platte, die mir perfekt den neuen Tag in einem anderen Licht erscheinen lässt. Sireena hat mit den "Live Rock Explosions From The Heyday Of Krautrock!" einen wunderbaren Sampler erstellt, der perfekt durch den Morgen und die Tage der Hoch-Zeit deutscher Musikgeschichte führt. Allesamt Liveaufnahmen (von 1972 bis 1984), was zuerst einmal 'schwierig' klingt, denn wir 'hassen' sie wohl alle, die Pausen zwischen live dargebotenen Songs verschiedener Künstler. In vorliegendem Fall hat das Label dieses Problem ganz einfach gelöst. Die Stücke gehen ineinander über und lassen das Album wie ein einziges Konzert erscheinen.

So finden sich die beiden treibenden ersten Stücke von Grobschnitt sowie Guru Guru neben dem pumpenden Instrumental von Mythos, welches seinerseits klasse mit den angejazzten Embryo (endlich findet sich auch diese Band in einer Besprechung auf RockTimes) und Out Of Focus harmoniert. Dazwischen grooven Gila psychedelisch und hypnotisch durch die Minuten. Was für eine Hammernummer - das Wah Wah-Pedal ist göttlich! Karthagos Rock'n Roll Testament lässt in herrlicher Southern Rock-Attitude die Sümpfe dampfen, Nine Days Wonder bereiten mir ein wunderbares Déjà-vu an einen Abend vor vielen Jahren, als ich diese großartige Musik selbst live miterlebt habe.

"Out In The Rain" - wenn es für mich DIE Krauthymne geben muss, dann dieser Song der Band, die in RockTimes von einigen fast vergöttert wird. Ich jedenfalls kann mich (obwohl sicher 1000 mal gehört) nicht satthören an diesem Track. Der durfte einfach nicht fehlen.
"Live Kraut' beweist auf eindrucksvolle Art und Weise, wie breit die damalige deutsche Musikszene aufgestellt war. Es mag ein jeder den Begriff Kraut anders definieren und sicher sind die vier letzten Bands auf dem Sampler 'anders', als die neun bisher gespielten.
Ougenweide etwa, die mit ihrem verträumten Mittelalter Folk hinüberleiten zu einer mir bis dato unbekannten Gruppe: Virus' "King Heroin" jazzrockt gewaltig und macht Appetit auf mehr. Den habe ich auch auf Eulenspygel. Deren "Teufelskreis" mit (deutschen Lyrics) rollt textlich passend zum Vorgänger durch die Küche. Ein Beweis, dass es einmal 'langhaarige deutschsprachige Musik' mit Texten zum Denken gab. Was auch der (leider) letzte Track mit Anyone's Daughters "Der Doppelstern" beweist.

Der Kaffee ist schon lange getrunken, das Wetter draußen immer noch mistig, aber die Musik wirkt noch nach. Mein Finger juckt und sucht die Repeat-Taste und das wird er auch noch oft tun. Auch bei gutem Wetter, denn "Live Kraut" ist eine der Scheiben, die nicht in den Tiefen des Regals verschwinden. Die Zusammenstellung ist mehr als gelungen und auch wer sich Dank Vorhandenseins aller Originalaufnahmen diesen Sampler selbst zusammenstellen könnte, wird die nahtlosen Übergänge dieser Livemitschnitte zu schätzen wissen.

Natürlich gibt es von den Bands viele Liveversionen. Sicher auch welche, die dem einen oder anderen besser gefallen. Und selbstverständlich ist diese Zusammenstellung weit davon entfernt, einen repräsentativen Querschnitt der 'krautigen' Szene widerzuspiegeln. Aber ich kann, ich muss und ich will diese Kompilation nur empfehlen und Sireena bitten, diese Reihe fortzusetzen. Kollege Steve hatte ja bereits Teil 1 besprochen und wie er komme ich nicht umhin, auch vorliegender CD die Tippgrafik zu verleihen. Eine tolles Stück deutscher Musikgeschichte.