Chaotisch oder genial?
Dieselbe Frage hatte ich mir schon seinerzeit beim Premierenlauschen des ersten Albums Hybrid Child gestellt. Und auch auf dem Nachfolger liefern Disctrict 97 keine leichte Kost. Aber je tiefer ich akustisch und gedanklich in "Trouble With Machines" eintauche - und das hat nichts mit 'Schönhören' zu tun - desto klarer wird (erneut) die Einsicht: Das ist ganz, ganz großes progressives Ohrenkino!
Ein Unterschied zum Vorgänger ist leicht ersichtlich bzw. hörbar: Cellistin Katinka Kleijn ist nicht mehr in Band und taucht lediglich noch als Gast auf, beim Song "Read Your Mind". Es ist schade, klar. Denn die mitteltiefen Streichereien hatten schon etwas Besonderes. Glücklicherweise gilt es aber zu konstatieren, dass diese Band auch ohne dieses Extra herausragend und einzigartig bleibt. Die Parallelläufe mit Bass und Gitarre und - nicht außer Acht zu lassen - die 'Verfolgungsjagden' mit der Gesangsstimme übernimmt das Keyboard.
Gesang, der 'eingefangen werden' muss? Das bleibt tatsächlich ein Markenzeichen von District 97. Was Leslie Hunt da mit teils exaltiertem Gesang und intuitiv, ja fast spontan wirkenden Melodien abzieht, sucht seinesgleichen. Eine Sängerin geht Gassi mit ihrer Band, statt ihre Parts erwartbar und 'durchkomponiert' runterzusingen. Und die Band hat es drauf, den Einsatz ihrer Frontfrau zu veredeln. Technisch überlegen und cool groovend wird auf dem rhythmischen Verschiebebahnhof so was von lässig hin- und her rangiert, dass es eine Wonne ist.
Keine Frage, auch District 97 betreiben Prog-'Reenactment', wie Unitopia, Kaipa, die FloKis und viele andere. Aber sie sind erfrischend wenig 'verblümelt', sondern immer wieder so hart und heavy, dass die Blümchen im Nu geplättet werden. Und sie sind den allermeisten Kollegen ein paar geniale Gedanken weit voraus. Was sind hier für großartige 'Trips' vorhanden! "Read Your Mind" mit latenter Flamenco-Note. Oder "Back And Forth", wo Leslie Hunt über bösen Riffs vom »Volcanic Avalanche« singt. Man glaubt für einen Moment an einen verschollenen Song von Vicious Rumors' "Digital Dictator"! Power Metal im Prog-Paradies.
Eine Momentaufnahme - eine von unzähligen, bei der man staunt und sich wundert und mehr will. Was ist denn das hier? Ur- Genesis meets Watchtower? Nicht nur. Außer ungeheuer spannungsintensiven Stücken wie besagtem "Back And Forth" oder dem skurril-surrealen "The Actual Color" gibt es auch noch den Indie-angehauchten, sehr geradeaus gehenden Power-Chorus von "Open Your Eyes" oder die hochverproggte, explosive Positiv-Wallung von "Who Cares?". Auch diese kompakten Tracks gehören auf die Liste verbotener Suchtsubstanzen.
Mein persönliches Highlight des Albums ist der Zehnminüter "The Perfect Young Man", frei nach dem Roman "Der Teufel von Chicago" um den berüchtigten Serienkiller H. H. Holmes. Wir erleben die Perspektive eines seiner weiblichen Opfer, das zu spät erkennt, dass ihr Bräutigam wohl doch nicht der 'perfekte junge Mann' ist. Ups. Als (ganz starker) Gastsänger ist John Wetton am Start - live auf der Bühne übernimmt Leslie Hunt meist auch den männlichen Part, und setzt sich dazu einen Hut auf.
"The Perfect Young Man" mit seinen umwerfend guten Tempo- und Stimmungsschwankungen klingt wie ein Spock's Beard-Track aus allerbesten Tagen. Nein, noch etwas ungewöhnlicher, 'eigener' - Dank Leslie Hunt mit ihrem charmanten Wahnwitz. Der längste Song des Albums, der Raussschmeißer "The Thief", steht dem in kaum etwas nach. Wenn ich diesen aber noch komplett mit Worten beschreiben müsste, würde die Rezension am Ende aussehen wie ein Gedicht von E. E. Cummings. Denn kaum eine andere Prog-Band ist gerade so kreativ unterwegs wie D97 - mit hörbar viel Respekt für Vorbilder, aber keinerlei Lust auf Konventionen.
Den multimedialen Beweis liefert die beiliegende DVD mit einem knapp anderthalb Stunden langen Konzertmitschnitt vom Rites Of Spring-Festival im Mai 2011. Spätestens bei dieser Performance muss man sich in sie Band verlieben. Sie spielt vorab auch bereits große Teile von "Trouble With Machines", und, als ganz großes Leckerli, eine begnadete Eigeninterpretation "Back In N.Y.C.", bei der man vom Sofa aufsteht, tanzt und Szenenapplaus spendet. The Lamb Lies Down On Broadway - jawohl, das sind so die Messlatten, die sich D97 ausgesucht haben. Wenn es heute noch so 'einfach' möglich wäre, mit einer einzigen Platte die Musikwelt zu verändern - District 97 wären ein Kandidat, um das zu schaffen.
Ach so ... chaotisch oder genial? Die Frage ist immer noch nicht so ganz beantwortet. Sagen wir doch: grenzgenial.
Line-up:
Leslie Hunt (lead and backing vocals)
Rob Clearfield (keyboards, additional guitars)
Jim Tashjian (guitars, backing vocals)
Patrick Mulcahy (bass)
Johnathan Schang (drums and percussion)
Guest Musicians:
John Wetton (additional lead and backing vocals - #4)
Katinka Kleijn (cello - #6)
Tracklist |
01:Back Anf Forth (8:43)
02:Open Your Eyes (4:25)
03:The Actual Color (5:48)
04:THe Perfect Young Man (10:01)
05:Who Cares? (4:51)
06:Read Your Mind (7:36)
07:The Thief (13:43)
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