Mit diesem Box-Set werden zwei bereits veröffentlichte DVDs als "Collectors Edition" noch einmal auf den Markt geworfen, die die Band auf einem ersten Höhepunkt ihrer Karriere 1970 und 2001 zeigt.
Macht die Anschaffung Sinn für jemand, der noch keine der beiden Scheiben besitzt?
Die Einzel-DVD von der Isle of Wight
hat Kollege Jürgen schon besprochen, deswegen brauche ich den Inhalt hier nicht zu wiederholen. Beide Produktionen sind ähnlich aufgebaut, zwischen den Liveaufnahmen gibt es kurze Kommentare, die das Geschehen reflektieren. Und diese Vorgehensweise ergibt auch jeweils einzeln und dann im Zusammenhang ein Zeitfenster der klassischen Rockmusik, für die
Jethro Tull steht.
1970 war die wilde Zeit der Rockmusik, die sich teilweise politisch und sozial engagierte und damit auch diverse Probleme hatte, wie der Film von damals recht gut zeigt. Daneben wollte jede Band noch mehr Aufsehen erregen, als die anderen, beispielsweise gab es auch einen Streit um den (strategisch wichtigen) letzten Auftritt des Abends zwischen Jethro Tull und der Jimi Hendrix-Band (die den kürzeren zog). Ian Anderson überzog seine Show völlig (s. "My God"), wie er selbst im Film zugibt. Auch das ganze Drumherum um das chaotische Festival wirkt aus heutiger Sicht zwar recht seltsam, ist aber gerade zum Situationsverständnis schon sehr sehenswert. Klar, das ist kein Musikfilm im Sinne eines Konzertmitschnitts und deshalb teile ich Jürgens Einschränkung, der mehr vom eigentlichen Auftritt gewünscht hätte, nicht so. Für mich ist das recht ausgewogen und gut gemacht.
Zeitsprung 31 Jahre später. Jethro Tull gibt es mit seinem Kopf Ian Anderson noch immer. Ich hatte zwischenzeitlich das Interesse an dieser in ihrer Anfangszeit ungewöhnlich klingenden Band mit ihrem charismatischen Sänger und Flötisten verloren (s. Die Szene in Oberfranken/Teil I) und mich auch nicht mehr um neuere Aufnahmen gekümmert. Mit den ersten Songs der nun eingelegten Live-DVD "Living With The Past" (von der es inzwischen auch eine CD-Produktion gibt) kehrte meine Aufmerksamkeit jedoch sofort zurück. Anderson hat noch immer eine Stimme von außergewöhnlichem Format und nichts von seiner Ausstrahlung verloren. Die Band spielt im Hammersmith Apollo in London groß auf, eingebettet in eine tolle, stimmungsvolle Bühnenshow. Als zweite musikalische Säule neben Anderson erweist sich sein Dauerpartner Martin Barre an der Gitarre, der sich zu einem echten Könner an seinem Instrument entwickelt hat und immer wieder Akzente setzt. Wenn er das Riff von "Aqualung" ins Auditorium schleudert, dann ist das kein routiniertes Bühnengehabe - der Mann steht einfach immer noch unter Strom! Im Line-up sind weiterhin Drummer Doane Perry, Bassist Jonathan Noyce und Keyboarder Andrew Giddings.
"Living With The Past" - der Titel ist Programm. Große Songs einer großen Karriere - weshalb sollte sich die Band nicht dazu bekennen? Das ist Rock-Historie, die bis heute reicht, zumal wenn sie so überzeugend und frisch live gespielt wird. Ob man die taktgenauen Sepia-Umschnitte mit Einblendungen aus amerikanischen Open Airs (Kontrast auch das dabei getragene legere Outfit zu den gewohnten Bühnenklamotten von London) mag, ist sicher Ansichtssache. Es wirkt soundmäßig wie aus einem Guss, erstklassig, transparent und druckvoll. Was natürlich den Schluss zulässt, dass hier mit viel Studiotechnik nachgeholfen wurde. Aber was soll's, ob Illusion oder nicht, das Ergebnis überzeugt genauso, wie der Inhalt. Anderson macht in den Statements klar, dass er die Vergangenheit perfekt aufbereiten wollte und das ist ihm gelungen. Auch im Bild - die Regie, die Kameraführung und die Komposition der Aufnahmen sind ebenfalls erstklassig.
Dazu gibt es zwei Überraschungen: Er hat tatsächlich die Ur-Jethro Tull-Band zusammen geholt und spielt mit Mick Abrahams, Glenn Cornick und Clive Bunker irgendwo in einem Club. Die Herren waren damals eine Bluescombo und Anderson entpuppt sich nun auch als ausdrucksstarker Harper. Ein Track (" Someday The Sun Won't Shine For You") ist in der regulären Tracklist, der zweite (nochmal "My Sunday Feeling") im Bonus-Material. Dann wurden zwei Songs ("Wond'ring Aloud" und "Life Is A Long Song") mit einem klassischen Quartett aufgenommen, was die kammermusikalische Nähe diverser Anderson'scher Kompositionen unterstreicht. Neben dem Leader kommen auch die anderen Bandmitglieder recht ausführlich zwischen den Songs zu Wort. Allerdings gibt es keine anderssprachigen Untertitel und die Kommentare können auch nicht menümäßig ausgeblendet werden.
Das weitere Bonusmaterial ist ebenfalls lohnenswert. Zweimal ist Anderson Gast bei Auftritten von Fairport Convention und Uriah Heep, allerdings werden die Songs nur angespielt, was bei solchen Schmankerln dann doch recht unbefriedigend ist. Die Fotogalerie mit Aufnahmen vom London-Konzert ist ansehnlich, Fans werden in Wort und Bild gezeigt, es gibt mehrere Kameraeinstellungen als "virtuelle Sitzplatzauswahl" und einen Spot, in dem Anderson für die Vorsorge gegen Thrombose wirbt.
Die beiden DVDs geben einen Überblick über das Schaffen von Jethro Tull bis in die jüngere Vergangenheit und sind zusammen ein Zeitdokument über dreieinhalb Jahrzehnte Rock. Von den wilden Open Air-Zeiten auf verschlammten Wiesen damals bis heute, in der die ehemals ungestüme progressive Musik (unter anderem) in ehrwürdigen Konzertsälen mit feiner Bestuhlung, in denen nicht geraucht und getrunken werden darf, entspannt und gut situiert genossen wird.
Und so macht die Zusammenstellung Sinn.
Jethro Tull ist derzeit wieder auf Deutschland-Tournee, wann und wo steht in unseren Tourterminen!
Tracklist |
Living With The Past:
01:My Sunday Feeling
02:Cross Eyed Mary
03:Roots To Branches
04:Someday The Sun Won't Shine For You
05:Jack In The Green
06:Thick As A Brick
07:Wond'ring Aloud
08:Sweet Dream
09:Hunt By Numbers
10:Bourée
11:A Song For Jeffrey
12:The Water Carrier
13:A New Day Yesterday
14:Life Is A Long Song
15:Budapest
16:New Jig
17:Aqualung
18:Locomotive Breath
19:Living In The Past
20:Protect And Survive
21:Cheerio
|
Nothing Is Easy: Live at the Isle Of Wight 1970:
01:Bourée (excerpt)
02:My Sunday Feeling
03:A Song For Jeffrey
04:My God
05:Dharma For One
06:Nothing Is Easy
07:Medley: We Used To Know, For A Thousand Mothers
|
|
Externe Links:
|