Neal Morse / ? Live
Live Spielzeit: 60:18 (CD 1), 77:27 (CD 2)
Medium: DoCD
Label: Mascot Records, 2007
Stil: Retro Prog

Review vom 11.02.2008


Boris Theobald
Mit "? Live" wirft Neal Morse sein erstes offizielles Livealbum als Solokünstler auf den Markt. Gerade für Fans in Deutschland eine Ehre: Der tiefgläubige Amerikaner mit der großartigen Bühnenpräsenz hat sein Konzert am 14. Juni 2006 in Berlin für die Nachwelt konserviert.
Zu "Testimony" gab es ja bereits eine Live-DVD und so fehlen dieses Mal Stücke des Albums. Stattdessen gibt es One (2004) zu großen Teilen und ? aus dem Jahr 2005 sogar komplett am Stück - das Ganze auf zwei CDs.
Mit im Gepäck hat Neal Morse keine Stars wie beispielsweise Mike Portnoy bei "Testimony Live", sondern eine europäische Tourband. Es sind fünf junge Musiker aus den Niederlanden, die Morse auf der Bühne unterstützen und die allesamt in ihrer Heimat mit zahlreichen Projekten zwischen Jazz und Rock von sich haben hören lassen, mit Neal aber zum ersten Mal mit einem ganz Großen zusammenarbeiten. Man muss nicht eigens erwähnen, dass diese Musiker sehr talentiert sein müssen und technisch einiges auf dem Kasten haben. Der Beweis ist schnell erbracht - der einstündige "?"-Marathon erweist sich als lebendiges, emotionales Bühnenerlebnis. Der ungeschliffene Klang der Aufnahmen tut sein Übriges zur Authentizität dieses Livealbums. Die Band zeigt keinerlei Schwächen, selbst bei anspruchsvollsten, komplexen Instrumentalpassagen - filigrane Soli an Gitarre und Keyboard teilt sich Morse mit seiner Hintermannschaft auf. Eigene Akzente setzen sie kaum, aber es ist auch verdammt hart in den Fußstapfen von Leuten wie Portnoy und Morse.
Und doch wird auch mal vom strikten Muster des Konzeptwerkes abgerückt und bei "In The Fire" eine minutenlange, neue Solistenstrecke eingebaut, bei der sich Neals Bande austoben kann. Schwierig ist der Job derer, die für die Backing Vocals zuständig sind, besticht "?" doch durch einige wunderschöne Satzgesänge. Größtenteils klappt es gut und sauber mit der gefühlvollen Mehrstimmigkeit, bei "12" sogar im Kanon.
In den Vordergrund tritt vor allem immer wieder Sängerin Jessica Koomen, die zum Beispiel mit Neal Morse die ruhigen beinahe-a-cappella-Stellen bei "In The Fire" singt. Da liegen die beiden doch hin und wieder ein wenig neben der Spur. Im Großen und Ganzen stört das aber wenig, denn Mr. Morse verzaubert mit seiner Stimme ein ums andere Mal: Sei es in den demütig-melancholischen genau so wie in den dramatisch-intensiven der insgesamt zwölf Episoden des fantastischen Mammutwerks "?".
Gerade live ist das noch einmal ein Erlebnis, denn man kauft Neal Morse all diese intensiven Emotionen ab. Da darf man - und muss man leider eben auch - manchmal verzeihen, wenn bei großer Hingabe der ein oder andere Ton von der Leiter rutscht.
CD Nummer zwei beginnt mit einer originalgetreuen Rekonstruktion des in genialer Weise an Spock's Beard-Zeiten erinnernden 18-einhalb-Minüters "The Creation". "Help Me/The Spirit And The Flesh" und "Reunion" als Track Nummer vier und sechs verleihen auch der zweiten CD den roten Faden großen, epischen Prog-Theaters, denn bei diesen Songs wird am Ende das "Creation"-Thema wieder aufgegriffen. Kraftvoll-emotionaler Chorgesang und Kanon-Übungen mit dem Publikum sorgen erneut für Gänsehaut, leider aber auch zunehmend für unfreiwillige Blue Notes. Und wieder stehen die Zeichen auf Vergebung dank der überzeugenden Atmosphäre, die den Hörer ganz nah die Energie des sympathischen Performers Neal Morse erleben lässt. Da helfen auch ein paar Anekdoten des Konzertmeisters, mal humorvoll, mal spirituell angehaucht wie auch seine Songtexte.
Es geht zum Beispiel darum, wie er seinen Sohn in die Entstehung von "One" mit eingebunden hat - und schon taucht der junge Will auch auf der Bühne anlässlich zweier Akustikstücke auf, singt ein paar Backings zu "The Man's Gone" und bei "Cradle To The Grave" (im Studio gabs hier einen Gastsänger) gleich im Duett mit seinem Vater. Nun ist das zwar sehr nett und menschlich von Neal Morse - gesanglich bewegt sich der Sprössling ob seines blutjungen Alters aber freilich jenseits von Gut und Böse. Das objektive Hörerlebnis leidet doppelt, haben sich doch mit besagten Balladen und auch dem straighten Rocker "King Jesus" (von der "One"-Bonus-CD) drei Stücke ohne sonderlichen Tiefgang eingeschlichen.
Versöhnlich wirkt jedoch das Schlussmedley, das die Spielzeit von CD 2 auf 77 Minuten hebt. Es ist eine Reise durch die Vergangenheit, mit "We All Need Some Light" ("Transatlantic") und fast der kompletten Fraktion der Gänsehautballaden von Spock's Beards "Snow"-Album, "Open Wide The Flood Gates", "Solitary Soul" und "Wind At My Back".
Unterm Strich ein Pflichtkauf, bei dem zwei, drei Songs nach einmaligem Hören aus der Playlist des mp3-Players einfach gelöscht werden.
Tracklist
CD 1:
01:The Temple Of The Living God
02:Another World
03:The Outsider
04:Sweet Elation
05:In The Fire
06:Solid As The Sun
07:The Glory Of The Lord
08:Outside Looking In
09:12
10:Entrance
11:Inside His Presence
CD 2:
01:The Creation
02:The Man's Gone
03:Cradle To The Grave
04:Help Me / The Spirit And The Flesh
05:King Jesus
06:Reunion
07:Encore Medley:
  We All Need Some Light
  Open Wide The Flood Gates
  Solitary Soul
  Wind At My Back
Externe Links: