Vince Neil, seines Zeichens ewigblonder Frontmann der L.A.-Sleaze-Götter Mötley Crüe, bringt dieser Tage sein erstes Solo-Album seit 15 Jahren raus. Entstanden die beiden Vorgänger unter eigenem Namen ("Exposed", 1993 und "Carved In Stone", 1995) noch zu einer Zeit, als Neil und seine Mötley-Boys musikalisch wie menschlich getrennte Wege beschritten, ist "Tattoos & Tequila" das erste Soloalbum, das er als vollwertiges Crüe-Mitglied aufgenommen hat. Somit ist dieses Teil also eine Veröffentlichung, die nicht aus der puren Not heraus entstanden ist, keine erfolgreiche Band mehr im Rücken zu haben. Zudem kommt es zu einer Zeit auf den Markt, wo Neils Hauptband in aller Munde ist und aufgrund ihrer Live-Aktivitäten eigentlich ziemlich ausgelastet sein dürfte. Bedenkt man dann noch, dass der Sänger neben Tattooläden, Restaurants und einer eigenen Fluglinie (!) noch Zeit und Muße gehabt hat, ein Soloalbum einzuspielen, kann man quasi nur zu dem Schluss kommen, dass "Tattoos & Tequila" eine echte Herzensangelegenheit für den mittlerweile 49-jährigen Rocker sein muss.
Doch bevor ich mich von der Musik überzeugen lassen kann, wandert mein Blick unweigerlich auf die Trackliste - und zaubert mir ein dickes Grinsen ins Gesicht! Denn allein an Songnamen wie "Tattoos And Tequila", "Ac/Dc" (meint hier natürlich nicht die australischen Riffrocker, sondern eine sexuelle Orientierung), "Long Cool Woman", "Another Piece Of Meat" und "Bitch Is Back" kann man im Grunde, ohne den Namen des Interpreten gelesen zu haben, erahnen, dass es sich bei diesen zwölf Liedchen um Kompositionen handeln muss, die sich gut unter dem Namen des Mötley-Fronters machen. Für Herrn Neil scheint sich also auch ca. zwanzig Jahre nach der Achtziger-Dekadenz-Dekade immer noch mächtig viel um Sex, Drogen und Rock'n'Roll zu drehen - trotz Fluglinie und anderen Reiche-Leute-Hobbies ist sein Interesse an gutem Tropfen und vollen Brüsten (Schnaps und Nutten) offenbar kein Stück kleiner geworden - sowas nennt man wohl Rock'n'Roll-Luxus-Lifestyle in Reinkultur! Das Coverartwork muss da natürlich in dieselbe Kerbe schlagen, versteht sich.
Neben solch plakativen Titeln stechen auf den zweiten Blick aber ganz einfach auch viele Nummern ins Auge, die gar von rockmusikhistorischer Kompetenz zeugen: Dass "Another Piece Of Meat" ein Scorpions-Cover ist, dürfte klar sein (enthalten auf "Lovedrive", 1979). Aber hatten die Sex Pistols nicht einen Song namens "No Feelings" (von "Never Mind The Bollocks, Here's The Sex Pistols", 1977)? Und wurde "Viva Las Vegas" nicht durch Elvis Presley populär gemacht (Single von 1964)? Fragten sich nicht auch John Fogerty und Creedence Clearwater Revival schon 1970, wer denn den Regen beenden würde ("Who'll Stop The Rain" vom Album "Cosmo's Factory"), und schrieben ZZ Top mit "Beer Drinkers And Hell Raisers" für Tres Hombres (1973) nicht eine lupenreine Rock'n'Roll-Outlaw-Hymne?
Richtig, genau so war das damals, vor ungefähr 30 bis 40 Jahren, als Vincent Neil Wharton, blutjung und noch grün hinter den Ohren, erste Gehversuche in Rockbands machte, bevor er ab 1981 mit Mötley Crüe deutliche Fußspuren im schillernden Hard Rock-Business hinterlassen sollte…
Wie dem auch sei, genau in dieser Mischung aus (insgesamt leider nur zwei!) 'Eigengewächsen' und (vielen) Coverversionen liegt das Problem des Albums: Man sollte Vince Neil zwar zugutehalten, dass er sich bei den neuinterpretierten Rock-Klassikern größtenteils nicht auf schon viel zu oft kopierte und somit gänzlich ausgeleierte Gassenhauer gestürzt hat: Hier findet man glücklicherweise weder ein "God Save The Queen", noch ein "Jumping Jack Flash", noch ein "Bad Moon Rising" oder gar ein "Fox On The Run". Seine Coverversionen sind hingegen vergleichsweise frisch und werden ziemlich solide herunter gerockt.
Damit sollten sie dem Neil- bzw. Crüe-Fan zweifellos gefallen, bewegen sie sich doch auch klangtechnisch nahe an der letzten Mötley-Produktion Saints of Los Angeles (2008) - insgesamt entlockt der blonde Sänger dem bekannten Material jedoch nur wenige überraschende Neuerungen… "Viva Las Vegas" wurde so hart rockend und bissig wie hier zwar auch nicht von den Herren Gibbons, Hill und Beard (richtig, 1992 von ZZ Top) nachgespielt, bleibt damit aber eher eine Ausnahme. Denn gerade Titel wie (das zugegebenermaßen sehr fett sleazende 1977er Cheap Trick-Stück) "He's A Whore", "No Feelings" und "Who'll Stop The Rain" kleben einfach zu sehr am Original, als dass sie für viel Aufsehen sorgen könnten. So stellt sich schlussendlich also die Frage, ob die Welt wirklich auf die Vince Neil-Versionen dieser Songs gewartet hat - oder eben nicht.
Wenn nicht, dann überzeugen den Rock-Freund vielleicht immerhin die großen Namen, die Vince Neil bei der Produktion dieses Silberlings unter die Arme gegriffen haben: Jack Blades und Marti Frederiksen sind in Hard Rock-Kreisen durch ihre Arbeit mit Hochkarätern wie Aerosmith, Ozzy Osbourne, Alice Cooper, Def Leppard oder Buckcherry keine Unbekannten.Und dass die zwei quasi 'eigenen' und damit wirklich neuen Songs somit aber noch nicht mal aus der Feder von Neil stammen, sondern von Frederiksen (steuerte den Titeltrack bei) bzw. Crüe-Kumpel Nikki Sixx (schrieb die Ballade "Another Bad Day" eigentlich schon für das 2000er Mötley Crüe-Album "New Tattoo") zu Papier gebracht wurden, sollte eigentlich niemanden verwundern, der sich mit Vince Neil schon mal beschäftigt hat: der große Songwriter ist der blonde Frontmann nämlich nie gewesen.
Unterm Strich hat Vince Neil hier trotz allem sehr solide, amtliche Arbeit geleistet, das sollte nicht übersehen werden. Doch ob 'solide' für diesen Siebziger-Rock-Tribut ausreicht, darf zumindest mal vorsichtig hinterfragt werden. Andererseits: wer außer den Crüe-Fans kauft bitteschön ein Vince Neil-Album? Eben. Oder noch anders gefragt: hat es ein Rockstar, der in der Vergangenheit schon Unmengen an Geld mit Musik verdient hat, und der seit geraumer Zeit viel lieber ein High Society-Leben zu führen scheint anstatt dem Rock'n'Roll zu huldigen wirklich nötig, sich nach irgendwelchen Erwartungshaltungen zu richten? Ganz sicher nicht.
Stattdessen macht er einfach sein Ding und nimmt die Songs auf, die IHM gefallen. Zockt die Klassiker neu, auf die ER Bock hat und schert sich einen Dreck um irgendwelche Verkaufszahlen und nörgelnde Musikjournalisten. Denn Vince Neil hat dieses Album vorrangig für sich selbst gemacht, einfach aus dem Grunde, weil er's KANN. Das beweist nicht nur das Konzept dieser Scheibe, sondern auch die Tatsache, dass ein Buch unter gleichem Namen dieser CD-Veröffentlichung folgen wird. Und wer weiß, vielleicht entfaltet diese Konserve ja in Verbindung mit wilden Rock'n'Roll-Geschichten erst ihre wahre Magie… Andererseits, auch so ein Buch gibt's ja schon im Original… Es heißt "The Dirt", und alle RockTimes-Leser dürfen jetzt einmal raten, welche vier Schminkerocker dessen Verfasser sind. Richtig, nämlich Mötley Crüe höchstselbst…
Anmerkung: Der Vollständigkeit halber sollen an dieser Stelle noch all jene Originalinterpreten erwähnt werden, die im Reviewtext nicht genannt worden sind: "Ac/Dc" stammt ursprünglich vom 1974er The Sweet-Album "Sweet Fanny Adams", "Nobody's Fault" ist eine Aerosmith-Komposition (von "Rocks", 1976), "Long Cool Woman" hat im Original eigentlich noch den Zusatz "… In A Black Dress" und wurde von The Hollies als Single ausgekoppelt (1972), während der Elton John-Titel "The Bitch Is Back" auf dessen Album "Caribou" (1974) enthalten ist.
Line-up:
Vince Neil (lead vocals)
Dana Strum (bass guitar)
Jeff Blando (guitars)
Zoltan Chaney (drums)
Tracklist |
01:Tattoos And Tequila (3:44)
02:He's A Whore (2:48)
03:Ac/Dc (4:08)
04:Nobody's Fault (4:44)
05:Another Bad Day (4:07)
06:No Feelings (2:50)
07:Long Cool Woman (3:27)
08:Another Piece Of Meat (3:08)
09:Who'll Stop The Rain (2:51)
10:Viva Las Vegas (2:54)
11:The Bitch Is Back (3:48)
12:Beer Drinkers And Hell Raisers [Bonus Track] (2:45)
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