Random Touch / Tributary
Tributary Spielzeit: 58:52 (CD 1), 60:14 (CD 2)
Medium: DoCD
Label: Eigenproduktion, 2011
Stil: Experimental

Review vom 20.09.2011


Ulli Heiser
Nichts ist sicherer, als das ewig Gleiche zu tun. Oder zu hören. Man weiß, was man kriegt. Das kann allerdings mit der Zeit auch langweilig werden. »Unser größter Feind ist die Langeweile« - das wusste bereits Voltaire.
Erbsensuppe und Bratkartoffeln sind lecker (und gar nicht so einfach zuzubereiten, wenn man auf Fertigprodukte verzichtet), aber will man das immer? Hummer und Kaviar sind auch lecker, aber jeden Tag? Irgendwo dazwischen ist das Leben, der Rock'n'Roll, das Interessante, Neue und Abwechslungsreiche. Der alte griechische Eulenjäger Aristoteles hat das schön ausgedrückt: »Zwischen dem Rande der Lippe und des Bechers kann viel sich ereignen«.

Auch eines unserer Lieblingslabels (Sireena) nimmt keine Rücksicht auf irgendwelche Grenzen und hat neben altem Kraut den noch älteren Henry Vahl oder dessen Theater-Kollegin Heidi Kabel in der Auslage. DAS ist Ausbrechen aus dem Gewohnten, ist Rock'n'Roll. Wie auch die gute alte Hilde (Knef), die es beinahe (fernab von Extrabreit) in unseren Künstlerindex geschafft hätte.
Was das jetzt mit vorliegenden Random Touch zu tun hat? Nichts. Oder eigentlich doch, denn diese Band schert sich einen feuchten Kehricht um irgendwelche musikalischen Konventionen und mit Sicherheit sind auch pekuniäre Aspekte nicht vordergründig Anlass ihres Schaffens. Wären sie Köche, dann hätten wir im weiten Bereich zwischen Erbsensuppe und Hummer etwas in der Art wie Spinat mit Lachs und Himbeeressig auf der Karte (Rezept kann gerne angefordert werden …). In den Reviews zu Alchemy und A True Conductor Wears A Man konnte der geneigte Leser, der die Beine nicht nur zum Stampfen bzw. den Kopf nicht nur zum Bangen hat, ja damals schon die Entscheidung treffen, kommende Reviews über Random Touch zu lesen. Tschüss, rufe ich nun mal in die Runde …
Wer jetzt noch dabei ist: Let's roll
Was ist das? Wo kommen die Geräusche her, bzw. was sind das für welche?
Himmel, das ist verdammt schwere Kost. Klappert der Deckel des Topfes auf der Herdplatte, weil das Pasta-Wasser kocht, oder ist gerade im Keller die Ersatz-Menage zusammengebrochen? Auf jeden Fall veranlassen mich die ersten Minuten des Albums, den Raum zu wechseln und unter dem Kopfhörer Platz zu nehmen. Ich hab lebende Tiere bei mir. Und eine Frau. Weiteres Lauschen via Lautsprecher könnte dies ändern … Wenn ich auch die improvisatorische Leistung der drei Musiker anerkenne, diese Soundscapes sind nichts für normale Ohren. Auch Experimental-geübte Lauscher werden sich schwer tun.
Ich kann behaupten, dass "Tributary" das mit Abstand 'schwerste Werk' in meiner Sammlung ist. Es scheint, als gibt es keinen Faden, keinen Aufbau und Erstreben irgendwelcher Ziele. Hinzu kommt, dass Scott Hamill per Variax-Gitarre alle Möglichkeiten hat, aus dem normalem Benutzen einer Gitarre auszubrechen. Überhaupt, schaut man sich das Instrumentarium im Line-up an, wird schnell klar, da hat niemand einfach Gitarre, Bass, Keyboards und Drums hingeschrieben. Fast liebevoll wird diese besondere Ausrüstung mit Namen genannt. Kenner der Szene wissen, dass damit allerhand möglich, und es fast unmöglich ist, jeden gehörten Ton der Quelle zuzuordnen.
Ich mag/kann/muss diese Musik mit moderner Klassik vergleichen. Vielleicht ist sie das sogar: Nu Classic, um im Genre-Ton zu bleiben. Obwohl , moderne Klassik kann ein anderes Orchester nachspielen. Mir kommt gerade Stockhausens Oper "Mittwoch" aus dem Zyklus "Licht" in den Sinn. Und zwar das "Helicopter-Streichquartett". Streicher, Piloten samt ihren vier Hubschrauber - das ist, wenn auch schwer, nachspielbar. Aber ich bezweifle ernsthaft, dass dies bei "Tributary" möglich ist. Obwohl, würde jemand einen eklatanten Unterschied bemerken?
Um Missverständnissen vorzubeugen: Es werden nicht unkontrolliert Geräusche erzeugt. Die drei Klangtüftler sind aufeinander eingespielte Solisten, die sich einander trotz aller Eigenständigkeit anscheinend blind verstehen und jeder ankommenden Frequenz ein passendes Pendant zurück- und mitgeben. Dazwischen, darüber und darunter werden Sprachfetzen gelegt. Mal hämmert es blechern, dann schrillt es glockenhell und auch bekannte Strukturen aus ebenso bekannten Genres werden ultrakurz und wohlwollend vom Ohr aufgenommen. Man stelle sich die musikalischen Stile so vor, als wohne jeder von ihnen in einem anderen Tal, auf einem anderen Berg oder in einer anderen Stadt. Da der Rock, dort der Jazz, dahinten Metal, im Nachbartal der Blues, ein paar Orte weiter die Klassik usw. Manchmal (wie der Land- oder Stadtflucht gleich), fusionieren die Bewohner - mit den unterschiedlichsten Ergebnissen. Random Touch machen das ähnlich. Aber sie durchwandern nicht die eben erdachten Klanglandschaften, sie schweben über der gesamten musikalischen Welt, ach was Welt: Über Welten und durch Universen fliegen sie und picken sich aus Bekanntem und Unbekanntem ein paar Fetzen, jagen diese durch die Effektgeräte und so in etwa klingt das, worüber ich gerade einsam schreibe.
Es ist unmöglich auf einzelne Tracks, von denen es immerhin 23 Stück gibt, seriös einzugehen. Der Klangkosmos ist nicht sinnvoll in Häppchen aufzuteilen. Der erste, der das für mich nachvollziehbar schafft, wird von mir bekocht: Spinat, Lachs und Himbeeressig stehen bereit.
Ich wiederhole den alten Griechen: »Zwischen dem Rande der Lippe und des Bechers kann viel sich ereignen« und wandle ab: Zwischen dem Output der Musiker und den Ohren der Hörer kann sich viel ereignen. Was sich da ereignet bzw. wie der Mensch vor den Lautsprechern damit umgeht, was er sich vorstellt, wie er das Gehörte aufnimmt und verarbeitet - das bleibt der individuellen Fantasie überlassen. Die Gretchenfrage, ob einem "Tributary" nun gefällt und ob man sich das Album öfter bzw. noch einmal anhört, ist eine No-Go-Frage. Ein Beuys, ein Muehls, ein von Hagens haben ihre Liebhaber, wie auch Segantini und Deiker sie haben. »Die Kunst ist eine Hure«
Jetzt bin ich so tief in Random Touchs Welt eingetaucht, dass ich, einem Taucher gleich, langsam wieder zurückkommen muss. Ich nähere mich häppchenweise dem Beginn dieses Reviews. Dort habe ich angerissen, wer sich alles beim Sireena-Label tummelt. Auch Lale Andersen ist im Programm. Das wäre jetzt passend, um meine mechanische Impedanzwandlung im Mittelohr wieder zu justieren.
Lale kann ich mich aber nur vorsichtig nähern. Ich versuche es am besten über Ufomammut, Lava und Unimother 27.
Wieder angekommen freue ich mich, denn Random Touch, Hildegard Knef, Henry Vahl, Heidi Kabel und Lale Andersen in einem einzigen Review zu erwähnen … das muss Rock'n'Roll sein, das ist Rock'n'Roll!
Line-up:
Scott Hamill (Variax guitar, Warwick Corvette ProLine bass, Pod XT Live guitar effects)
James Day (Alesis QSB, Kurzweil K2500, MicroKorg)
Christopher Brown (DW drums, percussion, vocals, TC Electronic Fireworks Harmonica, slide whistle, Readymades)
Tracklist
CD 1:
01:To Be Hear (4:50)
02:Just So (7:53)
03:More (5:09)
04:These Outliers (3:50)
05:Flagellating Americans (6:16)
06:How Blessed We Are (3:03)
07:Invent (3:59)
08:With The Tide (6:42)
09:Do you? (3:13)
10:Intend (5:15)
11:Invoke (3:26)
12:From The Sky (5:16)
CD 2:
01:Inhalation (9:03)
02:From The Inside Out (6:52)
03:Calling For More (5:28)
04:Languid Limbs (5:17)
05:Gaining OrBit (3:59)
06:Fastival Of Inattention (2:38)
07:Not To Dionysus (3:24)
08:A Rain Of Grace (6:24)
09:Into The Guns (5:33)
10:Flocks Of Fancy (4:53)
11:The Opposite Of Memory (6:43)
Externe Links: