1969 war für die Rolling Stones ein sehr wichtiges, aber auch ein sehr schwieriges Jahr. Brian Jones wurde gefeuert und ertrank nur wenige Wochen später dramatischer Weise in seinem Swimming Pool. Die Band war dazu musikalisch etwas eingerostet, da die letzte richtige Tour auch schon wieder drei Jahre zurück lag und das Team Mick Jagger/ Keith Richards nur zu gut wusste, dass man auf die Bühne zurück musste, wollte man weiterhin als ernstzunehmende Truppe gelten. Da dies aufgrund des katastrophalen physischen und psychischen Zustands von Brian Jones ein großes Risiko barg, bzw. schlicht und ergreifend nicht machbar war, wurde als dessen Ersatz Mick Taylor (Ex- John Mayall's Bluesbreakers) in die Band integriert. Seine Feuertaufe bestand der damals noch blutjunge Taylor bei dem Brian Jones-Gedenkkonzert im Londoner Hyde Park (Juni '69).
Im November, während noch an den letzten Feinheiten für das bald danach erscheinende Album Let It Bleed gearbeitet wurde, begann dann eine etwa zehntägige Tour durch die USA, die filmisch durch die Brüder Albert und David Maysles festgehalten wurde. Sicherlich stellt dieser Film für Stones-Anhänger sowie den allgemein gut informierten Rock-Fan nichts Neues dar, aber es ist schon erstaunlich, was man hier bei der Restaurierung des Bild- sowie Soundmaterials alles rausgeholt hat. Allein deshalb lohnt sich die Anschaffung dieser DVD bereits.
"Gimme Shelter" ist kein reiner Konzertfilm, sondern vielmehr eine Dokumentation über knappe zwei Wochen der Stones in den USA, mit dem Schwerpunkt auf einer der größten Katastrophen in der Geschichte der Rock-Musik, dem Open Air-Konzert in Altamont, das gerne als der Todeszeitpunkt der damaligen 'Love & Peace'-Ära beschrieben wird. Aber dazu später mehr.
Wir sehen die Stones in New York City auf der Bühne des Madison Square Garden vor einer enthusiastischen Fanschar, wir erleben die Band in den berühmten Muscle Shoals-Studios in Alabama, in denen sie damals bereits die Songs "Brown Sugar", "Wild Horses" und "You Gotta Move" für das erst gute anderthalb Jahre später erscheinende Album "Sticky Fingers" aufnahm, wir dürfen Backstage und in Hotelzimmern mit dabei sein, erleben eine vor Erotik geradezu berstende Tina Turner bei "I've Been Loving You Too Long", sind im Büro des Stones-Anwaltes Mel Belli, der irgendwie versucht, das Altamont-Konzert zu organisieren und schließlich können wir Jagger und Charlie Watts nach der abgeschlossenen Tour beim Sichten des Film-Materials im Studio beobachten.
Die zweite Hälfte und das eigentliche Herzstück des Films beschäftigt sich jedoch ausschließlich mit dem Open Air in Altamont, das das Woodstock der Westküste werden sollte. Michael Lang, einer der führenden Männer beim Organisieren eben jenes Festivals wurde auch hier ins Team integriert und tritt sehr selbstsicher, fast schon übermütig auf, wenn er in Interviews auf logistische Probleme angesprochen wird. Alle eindringlichen Warnungen und Bedenken von echten Koryphäen wie etwa Bill Graham (der das Fillmore West, Fillmore East und auch das Winterland managte) werden in den Wind geschlagen und der wohl größte Fehler wird von den Veranstaltern gemacht, indem man die Hell's Angels als 'Ordner' engagiert.
Mick Jagger hätte ahnen müssen, dass der 06. Dezember 1969 kein guter Tag wird. Spätestens dann, als er, kurz nachdem er auf dem Gelände angekommen aus dem Hubschrauber stieg, von einem Hippie ins Gesicht geschlagen und aufs wüsteste beschimpft wird. Bereits früh am Tag sind sowohl die Fans wie auch die Hell's Angels von Alkohol und schlechten Drogen total zugedröhnt, was die Angels dazu stimuliert, jeden auch noch so kleinen Anlass dankend entgegen zu nehmen, um den Fans mit Fäusten, Stiefeln und Billardstöcken das Leben zur Hölle zu machen. Selbst den Jefferson Airplane-Sänger Marty Balin befördern sie während des Airplane-Auftritts mit einem gezielten Schlag auf die Bühnenbretter. Als Jerry Garcia und Phil Lesh auf dem Gelände eintreffen und von den horrorhaften Umständen erfahren, machen sie auf dem Absatz wieder kehrt. Die vom Publikum freudig erwarteten Grateful Dead spielen keinen einzigen Ton an diesem Tag.
Während des Auftrittes der Flying Burrito Brothers (der Band der ehemaligen Byrds-Musiker Chris Hillman und Gram Parsons) kühlt sich die aufgeheizte Stimmung etwas ab. Der Country Rock scheint beruhigend auf Publikum und die Hell's Angels zu wirken. Ein Zustand der, ihr werdet es erraten, nicht sehr lange anhält.
Schließlich sind die Stones auf der Bühne und ein gut gelaunter sowie bekifft kichernder Jagger begrüßt die Menge. Es läuft alles ganz gut an, bis die nächste Prügelorgie startet. Jagger versucht die Meute zu beruhigen, was im auch kurzfristig gelingt. Bis es nur allzu bald wieder von vorne los geht und man sieht sehr genau, wie sich die Gesichtzüge eines schlagartig nüchternen Micks langsam aber sicher verändern und in pure Angst und Entsetzen umschlagen. Ein Umstand, den man ihm beim besten Willen nicht verübeln kann und er versucht mit brechender Stimme weiterhin, die Menge zu beruhigen. Wenn man sich die Blicke einiger Angels auf der Bühne in Richtung Jagger ansieht, wird klar, was sie auch mit dem Sänger am liebsten tun würden. Vollkommenes Chaos, ein Tag in der Hölle, bestimmt von sinnloser, roher Gewalt.
Umso erstaunlicher, dass sich Keith Richards, offenbar nicht auch nur im Geringsten eingeschüchtert, immer wieder mit den Angels anlegt und mehrfach droht, das Konzert abzubrechen, sollte die Gewaltorgie der Motorrad-Gang nicht aufhören. Das verlangt Respekt ab und scheint einmal mehr zu beweisen, dass der offensichtlich immer schon furchtlose Gitarrist für Gevatter Tod maximal ein höhnisches Grinsen übrig hatte. Gebracht hat aber auch dieser Umstand nichts und der traurige Höhepunkt dieses Tages ist schließlich, dass der noch nicht mal 20-jährige Meredith Hunter von einem Angel direkt vor der Bühne erstochen wird. Er wird zwar noch ins Krankenhaus eingeliefert, erliegt aber noch in der gleichen Nacht seinen Verletzungen.
Ob es daran liegt, dass man selbst älter wird? Auf jeden Fall war ich, nachdem ich mir den Film schon mehr als fünf Jahre nicht mehr angesehen hatte, doch wieder sehr mitgenommen von diesen Szenen. Ach ja, eine telefonische Stellungnahme von Sonny Barger, einem der Anführer der Angels, die einfach nur zu betretenem Kopfschütteln führt, gibt es übrigens auch noch. Man muss es gesehen haben!
Aber so schockierend und traurig diese Altamont-Geschichte auch war bzw. ist, so stellt "Gimme Shelter" dennoch ein hervorragendes und in seinen Bann ziehendes Zeitdokument dar und ist meiner Meinung nach der beste Film über die Rolling Stones, der je offiziell veröffentlicht wurde. Vor allem vermittelt er auch einen echten Eindruck über die so vollkommen unterschiedlichen Charakterzüge der Stones-Chefs Mick Jagger und Keith Richards. Und das sowohl in Krisensituationen (Altamont), wie auch im Studio und während Pressekonferenzen.
Auch das Bonus-Material ist sehr interessant: Man kann der Band (bzw. Jagger, Richards und einem der Maysles-Brüder) im Studio beim Abmischen des Songs "Little Queenie" zusehen, den gleichen Song, sowie "Oh, Carol" und "Prodigal Son" (jeweils in der maximal noch zu rettenden Bild-Qualität) aus dem Madison Spare Garden bewundern, es gibt den gesamten Film noch einmal mit Audio-Kommentaren von David Maysles und dazu noch Backstage-Impressionen von Mick Jagger, der mit Ike & Tina Turner (die neben B.B. King die Hallenkonzerte der Stones eröffneten) ein paar Akkorde spielt. Dazu ein sehr schönes 35-seitiges Booklet mit Stellungnahmen von Zeitzeugen (inklusive einmal mehr Hell's Angel Sonny Barger).
Das Bonus-Material, gepaart mit der stark verbesserten Bild- und Tonqualität sowie der historischen Signifikanz lassen schließlich nur ein Fazit zu: "Gimme Shelter" ist nicht nur für Stones-Fans, sondern auch für jeden sich selbst ernst nehmenden Rock-Fan ein absolutes Muss!
Ein Kritikpunkt aber: Untertitel sind in nahezu jeder europäischen Sprache abrufbar, aus absolut nicht nachvollziehbaren Gründen jedoch nicht auf Deutsch. Das einzig Ärgerliche an dieser DVD!
Line-up:
Mick Jagger (lead vocals)
Keith Richards (guitars, background vocals)
Mick Taylor (guitars)
Bill Wyman (bass)
Charlie Watts (drums)
Mit Gastauftritten von:
Ike & Tina Turner
The Flying Burrito Brothers
Jefferson Airplane
Tracklist |
01:Jumpin' Jack Flash
02:(I Can't Get No) Satisfaction
03:You Gotta Move
04:Wild Horses
05:Brown Sugar
06:Love In Vain
07:I've Been Loving You Too Long (Ike & Tina Turner)
08:Honky Tonk Woman
09:Street Fighting Man
10:Six Days On The Road (The Flying Burrito Brothers)
11:The Other Side Of This Life (Jefferson Airplane)
12:Sympathy For The Devil
13:Under My Thumb
14:Gimme Shelter
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