Shadow Gallery / Digital Ghosts
Digital Ghosts Spielzeit: 57:05
Medium: CD
Label: InsideOut, 2009
Stil: Progressive Metal


Review vom 08.12.2009


Boris Theobald
Natürlich kann man kein Review über die neue Shadow Gallery schreiben, ohne Mike Bakers zu gedenken. Der charismatische Leadsänger, der zu den Gründungsmitgliedern der Band gehörte, starb im Oktober 2008 völlig überraschend nach einem Herzinfarkt. Was für ein schlimmer Schlag - solch ein Verlust ist niemals zu ersetzen. Es kann allenfalls eine neue Zeitrechnung beginnen. Und das haben die verbliebenen Bandmitglieder zugelassen. Sie haben sich dafür entschieden, dass das Songwriting zum Room V-Nachfolger weitergeht. Und, Mann, das war vielleicht eine gute Entscheidung - "Digital Ghosts" ist ein Brett sondergleichen!
Was die Amis auf ihrem nunmehr sechsten Studioalbum präsentieren, ist der 'State of the art' des Progressive Metal mit zusätzlicher, stark ausgeprägter individueller Note. "Digital Ghosts" lässt nichts, aber auch gar nichts vermissen, was eine Prog-Band zum ultimativen Glücklichmachen drauf haben muss: komplex durchkomponierte Longtracks, technische Finesse, atemberaubende Solokünste, ein ausgereiftes Gespür für rhythmische Absonderlichkeiten und Tempowechsel. Und vor allem: viel Emotion!
Der neue Lead-Sänger Brian Ashland hat großen Anteil daran und kann auf ganzer Linie überzeugen, ob im klassischen, hohen Metal-Bereich der 80er mit feiner Technik oder in emotionalen Zwischen-Parts - mit schwermetallischer Drangkraft (zu Beginn von "With Honor") oder sehnsüchtig und einfühlsam (anfangs von "Pain"). Es kommen einem bekannte Genre-Größen wie
Ronny Monroe, Damian Wilson oder Geoff Tate in den Sinn - punktuell, versteht sich; aber wer das Album einmal durchgehört hat, wird wissen, was ich meine.
Mit Ashland rückt der Fokus gegenüber den Shadow Gallery, wie man sie zuvor kannte, etwas weg von warmen und weichen Atmosphären, hin zu mehr Metal-Lastigkeit. Aber auch nur 'etwas' - denn die unglaublich eingängigen Rock Opern-haften Schmacht-Chöre bleiben als Markenzeichen erhalten. Bei "Strong" wähne ich mich nach der ersten Instrumentalpassage gar kurz in "Jesus Christ Superstar". Aber keine Sorge - eventuellem Kitsch wird schon in der Entstehungsphase von den nächsten hoch- und runtersausenden Parallel-Läufen aus Gitarre und Keyboard der Garaus gemacht. Ohne Kitsch bleiben also ganz starke Hooklines - Melodien mit Musical-Anmutung in ausgefeilten, mehrstimmigen Arrangements. Schier unglaublich ist, wie perfekt sich diese wunderschönen Refrains - feingeschliffen und harmonisch - einfügen in das Spektakel drumherum - eckig, kantig und spannungsgeladen.
Außer dem neuen Lead Sänger Brian Ashland hat die Band noch zweí Gast-Vokalisten von einer Mitarbeit überzeugen können. Vielleicht als Zeichen dafür, dass man Mike Baker nicht einfach durch jemand anderes 'ersetzen' kann, hat man also gleich ein ganzes Team aufgeboten. "Venom" wird von Suspyre-Sänger Clay Barton interpretiert - und bei "Strong" steht kein Geringerer als
Primal Fear-Frontmann Ralf Scheepers hinter dem Mikro. Weitere Gäste auf "Digital Ghosts" sind Gitarrist Srdjan Brankovic (u.a. Expedition Delta) auf "Strong", Keyboarderin Vivien Lalu (Shadrane) auf "Gold Dust" und Drummer Joe Nevolo auf "Venom" und "Gold Dust" - ein ehemaliges Bandmitglied als Rückkehrer.
Der Vielfalt im Line-up steht der musikalische Artenreichtum der Platte in nichts nach. "Digital Ghosts" ist ein drehbuchreifes An-, Hinter- und Miteinander eines stilistischen Cocktails aus Metal, Hard Rock und symphonischem Prog Rock. Man lausche nur mal dem Titelsong! Verschachtelter Dream Theater-Aufbau, sphärische Pink Floyd-Einschübe, halsbrecherische Up-Tempo-Filigranitäten à la Symphony X, 'bärtig'-vertrackte Prog Rock-Passagen und ein nicht enden wollender Positiv-Jam im Toto-Sound mit Fusion-Touch. Überraschungen im Zehn-Sekunden-Takt; die begnadet kreative und pfiffig-geniale Rhythmussektion hält dieses Potpourri exzellent zusammen.
Mit den anderen Kompositionen verhält es sich nicht weniger abenteuerlich. Da 'schleicht' sich bei "Venom" ein mega-optimistischer Melodic Rock-Refrain ins Arsch tretende Metal-Riffing im Stile von Armored Saint oder Metal Church ein. Oder Classic Rock-infizierte Orgel-Orgien in Ralf Scheepers' coolen Power Metal-Auftritt bei "Strong". Ich kann dem kompletten Album vier, fünf, sechs und mehr Hördurchläufe geben; im Auto, auf der Couch, nebenher oder fokussiert, laut oder leise - und nein, ich kann "Digital Ghosts" in keine Schublade stecken.
Vergleiche funktionieren nur lokal, ob mit der düster-atmosphärischen Power Metal-Kapelle Magnitude 9 (Anfang von "Gold Dust"), mit Queensrÿche beim elegisch-majestätischen "Pain" oder gar mit Queen zu episch-rockigen Zeiten (die Solo-Gitarre über Klavier in "Haunted", bevor das Stück nach rund vier Minuten Fahrt aufnimmt). Deep Purple und Megadeth, Yes und
Judas Priest, Neal Morse und Anthrax - wer suchet, der findet, sag ich da nur. Und bei diesem ausgeprägten Epic Metal-Faktor gehört sich insbesondere jeder Savatage-Jünger, der diese Scheibe nicht sein eigen nennt, sowieso geteert und gefedert und gefesselt vor den Fernseher gesetzt, wenn im 'Ersten' der Mutantenstadl läuft.
Die sieben Kompositionen - 'Songs' kann man das kaum nennen - sind allesamt wahre Wundertüten - stilistisch bunt gescheckt, quicklebendig und sehr stimmungsvoll, ob mystisch-monumental oder spritzig und verzwickt. Gemeinsam ist ihnen nur diese verdammt kurzweilige Unberechenbarkeit. "Digital Ghosts" ist ein schillerndes Meisterwerk, eine knapp einstündige, wohl durchdachte Aneinanderreihung von Glücksmomenten für Kopf und Bauch, für Herz und Hirn. Trotz knapp 20 von mir angeführter Referenzbands - persönlicher Rekord! - lässt sich die Faszination dieser Scheibe nicht durch die Summe ihrer Einflüsse erklären. Nein, sie bezirzt den Hörer mit einer individuellen Bannkraft; und hier scheitere ich womöglich mit Worten - je faszinierender die Musik ist, desto schwerer lässt sie sich in schwarz-weißen Text übersetzen.
Doch so viel sei noch gesagt: Diese Shadow Gallery ist ein Jungbrunnen für ein ganzes Genre - das Beste, was mir im Progressive Metal-Bereich seit Ivanhoes Lifeline untergekommen ist und damit eine der Scheiben des Jahres 2009.
Schade, dass Mike Baker diese 'Früchte nicht mehr mit ernten' kann. Zumindest nicht im Diesseits...
Line-up:
Gary Wehrkamp (electric & acoustic guitar, bass guitar, keyboard, vocals, drums)
Brendt Allman (electric & acoustic guitar, bass guitar, keyboard, vocals)
Carl Cadden-James (bass guitar & vocals)
Brian Ashland (lead vocals, guitar)

Guest musicians:
Ralf Scheepers (vocals - #5)
Clay Barton (vocals - #2)
Srdjan Brankovic (guitar - #5)
Vivien Lalu (keyboard - #4)
Joe Nevolo (drums - #2, 4)
Tracklist
01:With Honor (9:59)
02:Venom (6:22)
03:Pain (6:22)
04:Gold Dust (6:45)
05:Strong (6:50)
06:Digital Ghost (9:37)
07:Haunted (9:37)
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