Vitruvius / Same
Vitruvius Spielzeit: 57:24
Medium: CD
Label: DOTT, 2011
Stil: Prog Rock

Review vom 14.03.2011


Boris Theobald
Mit etwas Verspätung kommt auch Europa in den Genuss des Debüts von Vitruvius, das die Band bereits 2008 bis 2009 aufgenommen hat. In ihrer mexikanischen Heimat haben sich die drei Herren mit Frontdame (oder die Dame mit den drei Background-Männern?) bei örtlichen Festivals schon einen Namen gemacht. Und auch auf unserer Seite des Großen Teichs stehen die Chancen dafür nun gut. Denn dieses Album beweist: In Zeiten regen weltweiten elektronischen Musikaustauschs ist auch Mittelamerika längst nicht mehr progressives Entwicklungsland!
Mitnichten - Vitruvius liefern ausgereifte progressive Feinkost, immer irgendwo auf der Schwelle zwischen Prog Rock und Prog Metal. Besonders auffallend ist der Gesang von Dulce Robles, die das Gros der Metal-Frontfrauen dieser Welt locker zu schlagen vermag. Es gibt die, die brüllen und die, die säuseln - es gibt aber auch diese Stimmen, die man einmal hört und denen man dann stundenlang fasziniert lauschen könnte. Dulce Robles gehört zur letzteren Kategorie!
Sie singt einfühlsam und verträumt, dabei aber beileibe nicht charakterlos. Und im nächsten Moment mit großer Kraft und dabei dennoch sehr emotional und feinfühlig. Eine tolle Stimme mit viel Feinsinn für Details - und das ist genau das, was die Musik braucht, um zu wirken. Vitruvius erschaffen filigrane, detailversessene Atmosphären und belassen es trotz vielschichtig verproggter Songarchitekturen bei Längen um die fünf, sechs Minuten, was für den Prog-Bereich ziemlich kompakt daherkommt.
Dramatische, von Breaks durchsetzte Staccato-Riffs im Stile von Evergrey oder Symphony X ("Stealing A Tear From The Rain", "Stain In The Moon") gehören ebenso dazu wie der fast minimalistische Songbeginn bei "Inner Space". Atmosphärische Akustik-Arpeggien wie bei
Shine On You Crazy Diamonds machen den Anfang, werden dann aber überraschend schnell mit Power gefüttert und in verzerrten Gitarren weitergeführt.
Später auch in Klavierklängen, denn verträumte Breaks gehören zum Gesamtkunstwerk dazu. Der wunderschöne Gesang dazu geht durch Mark und Bein. Freunde von Christina Booths Gesang bei Magenta oder von Emilia Derkoswka auf Quidams Pod Niebem Czas: Unbedingt reinhören; hier wird auf ähnlichem Niveau musiziert, es ist zauberhaft!
Andernorts geht es heavier zu. Verproggte Riffs und Zusammenspiel bzw. Duelle von Lead Gitarre und Keyboard haben was von Vanden Plas, die zart spannungsgeladenen Ton-Mosaike aus cleanen und verzerrten Gitarrenarpeggien erinnern hier und da an Sieges Even. Und der behutsame, aber doch packende und Spannungen auftürmende Songaufbau an Dream Theater zur "A Change Of Seasons"-/ "Awake"-Zeit. Düstere Riffs zu hellen Keyboards und glasklarem Gesang verleihen dem Ganzen auch schon mal einen Gothic-Touch, aber never too much. Das mysteriös knisternde "Shade My Sight" erinnert streckenweise an Edenbridge; Vitruvius sind aber deutlich verproggter, tiefgängiger und legen mehr Wert auf anspruchsvolle Instrumentalparts.
Heimlicher Höhepunkt des Albums ist das ganz und gar unspektakulär mit elegischen Klavierklängen beginnende "Memories". Das Stück ist eine auch von Dulce Robles eindringlich vorgetragene Introspektive über das Ausbrechen aus schlimmen Erinnerungen, die einen nicht loslassen und nachts im Traum verfolgen. Vom melancholischen Einstieg an steigert der Song nach und nach Dramatik; der Gesang baut in einem ständigen Crescendo Überzeugungskraft auf. Nach mehr als drei Minuten taucht zum ersten Mal der Chorus auf - eine sagenhaft eindringliche Melodie voller Wehmut und gleichzeitig Optimismus; und mittlerweile ist der Song auf einem hohen Energielevel angelangt. Ein langes Gitarren- und Keyboard-Duell erhöht nochmal die Spannung, und dann zum zweiten und letzten Mal dieser Chorus; und bis ganz zum Schluss steigert sich dazu die komplette Dynamik der Rhythmussektion.
Das ist schon große Klasse, wie hier ständig alles im Fluss ist und sich entwickelt. Die Spannungsbögen werden nicht per Copy & Paste von Strophe zu Strophe und Chorus zu Chorus kopiert, sondern über komplette Songs entwickelt. Das ist Prog Rock/ Metal, von dem man im Ganzen und im Detail schwärmen kann. Die akustische Entdeckungsreise steht jedem offen, der sein Geld exotisch anlegt und in Musik aus Mexiko investiert.
Emotionale Rendite höchstwahrscheinlich!
Line-up:
Dulce Robles (vocals)
Oskar Villarreal (guitar, keyboard, bass, backing vocals)
Ronnie Rodriguez (drums)
Armando Thamez (bass)

Guest musician:
Lucas Espinoza (keyboard - #3)
Tracklist
01:Stealing A Tear From The Rain (7:02)
02:Inner Space (6:39)
03:Somewhere (4:57)
04:Memories (5:58)
05:Alchemist (7:19)
06:Shade My Sight (6:10)
07:Lost Perception (4:26)
08:Stain In The Moon (6:00)
09:Black Sphere Pt.1 (2:29)
10:Black Sphere Pt. 2 (6:24)
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