Flying Colors / Second Nature
Second Nature Spielzeit: 66:30
Medium: CD
Label: Mascot, 2014
Stil: Rock

Review vom 27.09.2014


Boris Theobald
Projekt? Band? Egal. Es muss ja nur Spaß machen. 2011 wurden diese interessanten Namen zusammengeführt, die sich fortan Flying Colors nannten und 2012 ihr zu Recht gelobtes Debüt in die Läden brachten. Das wären Mike Portnoy und Neal Morse, die schon vielfach zusammen musiziert haben; Steve Morse und Dave LaRue, wieder vereint aus alten Dixie Dregs-Zeiten, sowie das Nesthäkchen der Gruppe, Casey McPherson, dessen Stimme mit den Farben im Nu um die Welt flog und begeistern konnte. Um ein Haar wäre ja auch mal Kerry Livgren dabei gewesen. Bandgründer und Produzent Bill Evans wollte ihn, aber der war gesundheitlich noch nicht auf dem Damm.
Dass es den Jungs Spaß machte und Spaß macht, hat sich längst rumgesprochen. Es gab eine Tour und ein Livealbum; nun dieses zweite Album und wieder eine Tour ... und längst die Beteuerung, dass die Musiker Flying Colors, den nötigen Platz im Terminplaner vorausgesetzt, als echte Band betrachten und nicht bloß als Nebenprojekt. Beweis gefällig? Für das erste Album kam man noch zu einem neuntägigen 'Konklave' zusammen und schrieb die komplette Musik en bloc - ein bisschen Planwirtschaft, auch wenn das Ergebnis klasse war. "Second Nature" dagegen entstand über einen Zeitraum von anderthalb Jahren in vier Etappen. Songwriting-Sessions per Skype, Schreiben und Aufnehmen zu Hause bei Neal Morse, dann wurde auch mal Quartier bei Mike Portnoy bezogen, und schließlich Restaufnahmen der einzelnen Musiker, die man dann per Internet zusammengebracht hat.
Das Ergebnis dauert 66 Minuten und kann sich hören lassen. Stilistisch gibt es keine Überraschungen - das wäre auch seltsam. Erneut bringen bringen die Beteiligten ihre Einflüsse in den Gesamtmix ein, und jeder von ihnen auch ein bisschen Seele. "Open Up Your Eyes" ist gleich zu Beginn ein recht 'bärtiger' Longtrack, in dem viel Neal Morse steckt. Es wird nahezu mit der kompletten Farbpalette der Kunst des Retro Prog gestrichen, gemalt und getupft. Melodien wandern von Klavier über Gitarre zum Gesang; es breiten sich geduldig und beharrlich pulsierende Drives auf; es gibt intensive B-Parts, die einem heiße und kalte Schauer den Rücken rauf- und runterjagen. "Mask Machine" ist dagegen ein rau verzerrter, straighter Rocker. Steve Morse führt edle Fingerübungen aus und schrubbt ein paar fixe Tontreppen rauf und runter. Aber schon hier wird deutlich, dass die Beteiligten nie um des Selbstzwecks Willen ihre Fähigkeiten spazieren tragen. Überhaupt nicht. Exerzizien werden prima in den Flow der Stücke eingebaut.
Ein echtes Highlight ist "A Place In Your World". Vielleicht hinterlässt diese Nummer diesen Eindruck, weil sich das Zutun der verschiedenen Musiker hier ganz besonders eindrücklich zu etwas Neuem, 'Großem' verbindet. Da sind die parallelen Orgel-und-Gitarren-Kaskaden der beiden Morse-Männer, Dave LaRues Puls gebende Basslines, Mike Portnoys ungeheuer präsenter und mitprägender Drumstil und ein Steve Morse, der nicht einfach nur ein Saiteninstrument bedient, sondern seine Lead-Gitarre singen lässt. Das ist wirklich wunderschön und erhebend und man hört, was ein Musiker zu Stande bringt, der sich in einer geeigneten Umgebung all seiner sonstigen musikalischen Beschränkungen entledigt. Es erinnert teilweise an seine kurze Zeit bei Kansas Ende der 80er, als es in der Band zwischenzeitlich keinen Geiger gab und Mister Morse hemmungslos zaubern durfte.
Ebenfalls richtig stark sind "The Fury Of My Love" (auch auf dem zweiten Album ist damit wieder eine ziemlich Beatles-like Nummer dabei!) und "Lost Without You" - und das, obwohl es sich doch 'nur' um ruhigere Nummern handelt, um ... Balladen? Balladen, die sich kraftvoll entwickeln und die mit außergewöhnlich guten Harmonien arbeiten. Die Melodien sind kitschig, aber toll, von Sänger Casey McPherson empathisch präsentiert, hier und da auch mal mit schönen Schlenkern in den Kopfstimmenbereich, und in mehrstimmigen Chor-Arrangements zelebriert. Irgendwie ist es erfrischend, dass sich diese Szenestars nicht 'zu schade' sind, solche eher simplen, aber eben einfach das Gefühlszentrum treffende Stücke zu schreiben.
Den Höhepunkt hebt man sich bis zum Schluss auf. Die dreigeteilte "Cosmic Symphony" gibt als zweiter Zwölfminüter nach dem Opener "Open Up Your Eyes" dem Album so eine Art 'Knochenform': vorn und hinten ganz dick, dazwischen schmal. Und auch welcher Longtrack wo steht, scheint kein Zufall, sondern macht die Gesamtdramaturgie von "Second Nature" sehr ansprechend. "Open Up Your Eyes" 'dreht' sich schneller und trägt seine Melodien klarer vor sich her. "Cosmic Symphony" nimmt sich dagegen mehr Zeit, baut sich aus einer geheimnisvoll-verträumten Grundstimmung heraus auf und wird zu einer epischen atmosphärischen Berg- und Talreise. Es gibt leidenschaftliche Soli mit mehr Melodie als manch andere Band für ihre Vocal Lines zu finden im Stande ist; und diese Frickeleien passen sich wunderbar intuitiv in die Dynamik der Drives ein, um punktgenau Auftrieb zu schaffen oder in einem Break zu erstarren - toll!
Ganz durchgängig können Flying Colors die Highlight-Stimmung nicht aufrecht erhalten, aber dennoch durchweg überzeugen, während sie unterwegs allerlei stilistischer Auffälligkeiten verbauen. "Bombs Away" hat ein paar bluesrockige Elemente. "One Love Forever" startet mit tänzelndem schottischem Highlands-Folk und steigert sich Minute um Minute in einen optimistischen Prog Rocker. Und "Peaceful Harbor" hat viel 'Spirituelles', vom süßlichen Akustikstart bis hin zum Gospelfinale - die erste Hälfte klingt ziemlich nach Proto-Kaw; als wäre Kerry Livgren in Gedanken doch dabei. Diese Stücke sind stark, wenn auch nicht überragend ... es fehlt oft der letzte Kick, die absolute Weltklasse-Hookline, der überraschende Dreh, der einem die Kinnlade aushebelt, um die Songs von edel jam-prog-retro-heavy-rockenden Stücken zu zeitlosen Nummern zu machen. Was gemerkt? Richtig. Es ist Kritik auf hohem Niveau. Aber noch mal so eine Hookline wie bei "Blue Ocean" wär schon nicht schlecht gewesen.
Unterm Strich gibt es keinen vernünftigen Grund, "Second Nature", das insgesamt proggiger als das Debüt ausgefallen ist, nicht haben zu sollen. Da haben sich welche (nicht) gesucht und (trotzdem) gefunden, sind zusammengewachsen und machen zusammen etwas, das größer ist als seine Einzelteile. Flying Colors erzeugen Musik, die soooo packend und intensiv und groovend ist - und dennoch ist sie so kribbelig-leicht und schwebt schwerelos in hohen Sphären. Um das beides zusammen hinzukriegen, muss man schon zaubern können. Die können.
Line-up:
Casey McPherson (lead vocals, guitar)
Steve Morse (guitar)
Neal Morse (keyobards, vocals)
Dave LaRue (bass)
Mike Portnoy (drums, vocals)
Tracklist
01:Open Up Your Eyes (12:24)
02:Mask Machine (6:06)
03:Bombs Away (5:03)
04:The Fury Of My Love (5:10)
05:A Place In Your World (6:25)
06:Lost Without You (4:46)
07:One Love Forever (7:17)
08:Peaceful Harbor (7:01)
09:Cosmic Symphony (11:46)
I.Still Life Of The World
II.Searching For The Air
III.Pound For Pound
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