So umstritten die musikalische Entwicklung Queensrÿches unter den Verehrern ihrer Frühwerke seit vielen Jahren auch ist; eines kann man der Metalband aus Seattle nicht absprechen: Ihr innovatives und feinfühliges Gespür für Geschichten und Konzepte. Unterschiedlicher könnten die Herangehensweisen jedoch kaum sein: Operation Mindcrime, das Magnum-Opus der Bandgeschichte, war Fiktion - geniale, aufreibende Fiktion, die dem Amerika der Reagan-Zeit den Spiegel vor Augen hielt. "American Soldier" ist Realität - die Wirklichkeit real existierender Personen, amerikanischer Soldaten.
Mastermind Geoff Tate hat für "American Soldier" Soldaten interviewt, die für die USA in Kriegen kämpften, vom Zweiten Weltkrieg über Vietnam, Korea und Somalia bis hin zu Irak und Afghanistan. Ihre Erzählungen lieferten den Stoff für die zwölf Stücke. Zum ersten Mal sind die Lyrics der Songs nicht die Meinungen und Mahnungen von Queensrÿche oder Geoff Tate - es gibt keinerlei politische Aussagen der Band, die sich sonst so oft als kritisches Sprachrohr gegen Kriegstreiberei präsentiert hat. Auf Konfrontationskurs ging man jedoch stets in Richtung Weißes Haus samt Strippenziehern - nicht gegen die Soldaten, deren Stimmen "American Soldier" erzählen - und das zum Teil sogar sehr direkt.
Diese Stimmen erzählen von Todesängsten, vom Erleben der 'Hölle auf Erden', aber auch von Überzeugung und Vertrauen. Sie erzählen von Disziplin, Mut und Zusammenhalt, aber auch von lebenslangen Traumata, von Schuldgefühlen und unheilbaren seelischen Wunden. Dabei gelingt es Queensrÿche in überzeugender Manier, die emotionalen Eindrücke mit viel einfühlsamem Tiefgang differenziert in Musik zu verpacken.
Auch das zwölfte Studioalbum der Band (EP und Coveralbum Take Cover mitgezählt) ist nichts für klassische Puristen, für die die Band nach "Empire" oder "Promised Land" praktisch gestorben war. Queensrÿche beschreiten - um weit auszuholen - nach der "Hear In The Now Frontier"-Katastrophe und dem durchwachsenen Q2K weiter jenen Weg, der mit "Tribe" anno 2003 eingeschlagen wurde. Wem Operation Mindcrime II gefallen hat, der wird auch "American Soldier" viel abgewinnen können.
Nach wie vor hat man keine Hemmungen, die Gitarren tiefer zu stimmen. Die dabei entstehenden dunkelfarbenen Vibes verleihen den mitunter beklemmenden Emotionen, die in den Lyrics geschildert werden, überzeugenden Ausdruck. Was dazu keineswegs fehlt ist eine ganz klassisch nach alten Queensrÿche klingende Solo-Gitarre - und Michael Wilton übt sich mit ihr auch in fesselnden, hochemotionalen Soli.
Wilton ist der einzige 'feste' Gitarrist des Line-ups. Kurz vor den Aufnahmen hatte man sich einvernehmlich von Mike Stone getrennt; und der Neue, Parker Lundgren, war noch nicht mit im Boot. Da durfte so mancher Langzeit- Queensrÿche-Fan erschrocken vernommen haben, dass Geoff Tates alter Freund und Ex-Bandmitglied Kelly Gray als Gast-Gitarrist mit dabei ist, der auf "Q2K" und Live Evolution einen all zu ausgeprägten Hang zum Wah-Wah-Pedal offenbarte.
Entwarnung! Viele Gitarren-Parts hat Gray nicht. Die Wah-Wah-Effekte, wohl dosiert gleich zu Beginn der heavy nach vorn peitschenden "Sliver"-Hookline erzeugen sogar genau die richtige, etwas unwirkliche Stimmung. Der straighte Brecher, der das Album eröffnet, führt den Hörer gleich ins Bootcamp. Militärischer Drill. »On your feet!« wird geshoutet. Nicht von Geoff Tate, sondern von einer der zahlreichen Gaststimmen der 'beteiligten' Soldaten selbst.
»Then you start to feel guilty for living your life. To get older when... somebody else didn't«.
Mit diesem Originalton beginnt "Man Down!", ein Stück über Schuldgefühle, über ein von Alpträumen gezeichnetes Leben zurück in der 'zivilen' Welt. Ein anderer Offizier schildert, wie er seinen besten Freund im Einsatz sterben sah. 'Sein' Song, "If I Were King", ist geprägt von Selbstzweifeln. Hätte er mehr tun können, um seinen Kumpel zu retten? "Remember Me": Ein Soldat reflektiert über seine junge Ehe, die die Zerreißprobe der Trennung zwischen Heimat und Einsatz nicht überstanden hat. Die teils mit verzerrenden Effekten eingebauten, authentischen Sprech-Parts bringen den Hörer ganz nah mit den erzählten Schicksalen in Berührung.
Nicht zuletzt durch die Originalstimmen spielt immer eine Portion Pathos und Theatralik mit. Ein sehr facettenreiches Songwriting, Rock-Opern-tauglich, ganz Queensrÿche, tut sein übriges dazu: Das aufgewühlte "Sliver" mit seinem Chorus-Wechselspiel aus forschen Shouts (»Welcome to the Show!«) und edelsten, mehrstimmigen Chören. Die ruhige, aber unheilschwangere, fast psychedelische Impression von "Middle Of Hell". Das vor Kraft strotzende, optimistische "Hundred Mile Stare". Die von zwei düsteren Gitarren angetriebene, druckvolle und rohe Heaviness von "Man Down!". Die leidenschaftlich inbrünstige Wehmut des Classic-Rockers "If I Were King". Die introvertierte, subtil wirkende Nachdenklichkeit von "Remember Me". Der elegische, eindringliche Power-Chorus von "Unafraid". Die hypnotische, Trance-artige Bannkraft von "A Dead Man's Words": Hier singt Geoff Tate im Wechsel mit Gastsänger Vince Solano, der kurioserweise auf der letzten Queensrÿche-Tour bei einem Gesangs-Wettbewerb seine Gastrolle gewann - eine Rolle mit tieferem Sinn, denn das Stück wird aus zwei Perspektiven erzählt: Die eines Soldaten, der hinter feindlichen Linien abgeschossen wurde und die des Freiwilligen, der sich auf eine tödliche Rettungsmission begibt.
Die musikalische Umsetzung ist allererste Sahne. Ob einem nun die oftmals, aber nicht ausschließlich tiefergelegten Tonlagen gefallen oder nicht - das äußerst dynamische Wechsel- und Zusammenspiel von Lead- und Rhythmus-Gitarre, von knisternd spannenden Clean-Guitar-Arpeggien und packenden, hochmelodischen Metal-Hooklines zeugt immer noch, zumindest in Teilen, von der großen Schule aus "Operation Mindcrime"-Zeiten. Genauer betrachtet ist der Sound der Band sogar ausdifferenzierter, die Stimmungen facettenreicher geworden.
Die Band nimmt einen mit auf ganz unterschiedliche, unterschwellig wirkende und ausgefeilte Klangwelten, die mitunter Züge des experimentellen Albums "Promised Land" von 1994 tragen. Die Stücke sind nicht nur mit unkonventionellen Strukturen ausgestattet und folgen nicht immer dem Strophe-Refrain-Strophe-Muster. Sie sind auch gespickt mit Samples, unter anderem von heulenden Sirenen oder Artilleriefeuer. Und mit Effekten, die Gesangspassagen, Drums oder eben jene Samples mit der Spannung eines Thrillers verfremden. Eine geniale Bannwirkung erzielen Geoff Tates Saxofon-Einsätze, die sich gleich durch mehrere Songs ziehen - Eindrücke, die die akustischen Referenzen an "Promised Land" vervollständigen.
Niemand könnte die Vielfalt der menschlichen Gefühle, die Kern der verschiedenen Geschichten sind, besser ausdrücken als Geoff Tate, der ein ums andere Mal für Gänsehaut sorgt. Einerseits mit seiner bloßen Gesangstechnik und großartigen Stimmkraft. Andererseits mit dieser nach wie vor unnachahmlichen, teils ekstatischen emotionalen Intensität. Als Beispiel lässt sich das ergreifende "The Voice" anführen, mit dem Queensrÿche ihrer Tradition eines episch und bombastisch angehauchten Schlussstücks treu bleiben, nach dessen endgültigem Ausklang einem erst einmal, mitgerissen von den ganzen Eindrücken, der Atem stockt.
Ist "American Soldier" aber am Ende doch das 'unpersönlichste' Album der Band, weil man sich ausschließlich der Botschaften anderer bedient? Die Antwort: mitnichten! Beim nachdenklichen "Home Again", einem Stück über die Sehnsucht, die ein Soldat fern der Heimat nach seiner kleinen Tochter verspürt, singt Geoff Tate im Duett mit seiner eigenen, zehnjährigen Tochter Emily. Auch, wenn ein Kind als musikalischer Gast gewöhnungsbedürftig ist - das gibt dem Ganzen doch einen besonderen Touch. Und die Stimme am Anfang von "The Voice", das ist Geoff Tates eigener Vater, der laut Tate fast sein ganzes Leben lang zu seinen Kriegs-Erlebnissen schwieg und damit, dass er sich endlich öffnete, seinem Sohn die Inspiration für das Album gab.
Und dieses Album ist ein bewundernswertes und extravagantes Kunstwerk geworden. Was womöglich fehlt, sind die zwei, drei richtigen Kracher, die perfekten Songs - unvergessliche Meilensteine wie "Take Hold Of The Flame", "Walk In The Shadows" oder "Eyes Of A Stranger", um nur ein paar zu nennen. Diese erreicht die Band - wenn man die Stücke als Einzelteile unter die Lupe nimmt - nicht mehr. Dafür kann das Album aber ein sehr gutes Niveau durchweg halten. Und das Gesamtkonzept ist in jeder Hinsicht stimmig und innovativ, verbindet die Stücke zu einem großen Ganzen. Queensrÿche sind eben immer noch eine 'Progressive' Metal-Band.
Line-up:
Geoff Tate (vocals)
Michael Wilton (guitar)
Eddie Jackson (bass)
Scott Rockenfield (drums)
Guest musicians:
Emily Tate (vocals on #11)
Jason Ames (vocals on #1,#8)
A.J. Fratto (vocals on #1)
Vincent Solano (vocals on #5)
Randy Gane (keyboard)
Kelly Gray (guitar)
Damon Johnson (guitar)
Tracklist |
01:Sliver
02:Unafraid
03:Hundred Mile Stare
04:At 30,000 Ft
05:A Dead Man's Words
06:The Killer
07:The Middle Of Hell
08:If I Were King
09:Man Down!
10:Remember Me
11:Home Again
12:The Voice
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