The Who / Endless Wire
Endless Wire Spielzeit: 52:51 (58:57)
Medium: CD
Label: Universal (UK Sounds), 2006
Stil: Rock


Review vom 13.11.2006


Jürgen Bauerochse       Olaf 'Olli' Oetken
Wenn eine Institution wie die Who 44 Jahre nach Gründung eine neue Platte heraus bringt, sind, einem Naturgesetz gleich, kontroverse Meinungen vorprogrammiert.

Jürgen fängt an:
Ein wenig komisch fühlte ich mich schon, als ich den neuen Silberling der Who in der Hand hielt und zum ersten Hördurchgang ansetzen wollte. Ehrlich gesagt hatte ich keine Ahnung, was da auf mich zukommen würde. Was hatten die Who, oder besser gesagt Pete Townshend und Roger Daltrey, denn noch so drauf? Immerhin liegt das letzte Studio-Album ("It's Hard") schon vierundzwanzig Jahre zurück, und die letzten Soloaktivitäten der beiden verbliebenen Who-Member rissen mich auch nicht unbedingt vom Sofa.
Was mir dann aber entgegen schallte, hörte sich gar nicht so schlecht an. "Baba O Riley" lässt gleich beim Opener grüßen, bevor Pete Townshend zum ersten Mal kräftig in die Saiten greift. Guter Song, bei dem auch Daltreys Stimme stark und klar klingt. Das macht schon mal Lust auf mehr!
Beim weiteren Anhören fällt zunächst mal die enorme Vielseitigkeit von "Endless Wire" auf. Mehrere Tracks setzen auf Akustik-Gitarre, und auch ein Banjo kommt hin und wieder zum Einsatz. Schon in diesem ersten Lied gibt es viele Ähnlichkeiten zum Jahrhundert-Album der Who, Quadrophenia, auf die Ohren. "Mike Post Theme" pendelt von ruhigen Parts immer wieder in den typischen Powerstil der Band, wie er schon bei "Magic Bus" vor Jahrzehnten zu hören war.
Überraschung dann bei "In The Ether". Gar nicht so einfach zu erkennen, wer hier den Leadgesang zur Pianobegleitung bestreitet. Respekt Herr Townshend, das Täuschungsmanöver wäre fast gelungen.
"Black Widow's Eyes" dann ein erster Anspieltipp. Ja, das sind die Who, wie wir sie kennen und lieben. Wieder klingt Roger Daltrey unglaublich stark und ausdrucksvoll, und auch der Harmoniegesang passt.
Nachdem "Two Thousand Years" mit Banjo und Violinenklängen wiederum an "Quadrophenia" erinnert, folgt ein Solo-Titel des Gitarrenhexers. Ganz sanft und trotzdem ausdrucksstark singt sich Pete Townshend durch "God Speaks Of Marty Robbins". Ein wirklich guter Song, der mich schon fast in Folk-Gefilde abdriften lässt. Das Gleiche kann man auch von "You Stand Me Up" sagen. Eine wirklich wunderbar gefühlvolle Ballade.
Ab Track Nummer 10 beginnt dann die Mini-Oper "Wire & Glass" mit zwei kräftigen Rockern: "Sound Round" und "Pick Up The Peace" sind zwar nur je eineinhalb Minuten lang, machen aber doch ziemlichen Dampf im Kessel.
Wieder gibt es Banjoklänge und Pianoeinlagen, garniert mit akustischen Gitarrenparts. Und wieder kommt mir "Quadrophenia" in den Sinn. Wirklich gut gemacht!
Überhaupt muss ich sagen, dass in Puncto Songwriting das gesamte Album auf einem sehr hohen Niveau steht. Die lange Plattenpause und der Tod von John Entwistle scheinen der Kreativität eines Pete Townshend keinen Schaden zugefügt zu haben. Die Band klingt frisch und unverbraucht. Obwohl sich nicht gleich ein absoluter Ohrwurm aus den neunzehn Songs herauskristallisieren lässt, ist den Who hier ein sehr gutes Album gelungen. Zwar gibt es nicht mehr die Brachialgewalt, mit der sie uns vor weit über dreißig Jahren beglückt haben, aber das war auch nicht zu erwarten.
"Endless Wire" ist den Jungs wirklich besser gelungen, als ich das erwartet hatte, und dieser Eindruck wird sich nach mehrmaligem Anhören sicher noch verstärken.
Olaf hat eine ganz andere Sicht der Dinge:
Um gleich wie der Elefant in den Porzellanladen zu fallen:
Wer sich die erste neue Studio-Longplay-Produktion unter der Who-Flagge seit den letzten und viel beschriebenen vierundzwanzig Jahren zulegen möchte, solle dies gerne tun, täte aber vermutlich besser daran, sich an den jüngst wieder aufgelegten Backkatalog des Townshendschen Soloschaffens zu halten.
Warum?
Ganz einfach, Mr. Townshend hat sich, uns und der langen Bandgeschichte nichts Wesentliches mehr hinzuzufügen und wärmt mit diesem Werk lediglich eine vorgekochte Suppe wieder auf, die zwar durchaus essbar/konsumierbar ist, aber letztlich doch recht fad und uninspiriert ausfällt.
Grundlage des ganzen Brimboriums sind Aufnahmen, die Pete Townshend in seinem Home-Studio zusammengebastelt hat, und dies über den langen Zeitraum von geschlagenen vier Jahren. Dabei werkelte er mit modernstem Equipment rum, was er im Booklet auch ausführlich erläutert. Darüber hinaus bediente er unzählige Instrumente, vom Schlagzeug, über Banjo und Mandoline, bis hin zur Violine/Viola, alles im Angebot. Ganz nebenbei griff er zusätzlich in die Saiten diverser akustischer und elektrischer Gitarren, letzteres leider viel zu selten, fungierte als Produzent und besorgte auch den End-Mix. Sehr seltsam, wird doch seit geraumer Zeit kolportiert, er sei auf einem Ohr fast taub und es würde vor lauter Tinnitus nur so durch die Gegend fiepen.
Ach ja, genauso seltsamerweise firmiert das Album unter dem Namen The Who, denn der einzig überlebende Kollege Roger Daltrey darf ab und an auch mitmischen und seine Stimmbänder erbeben lassen. Seine Parts wurden separat aufgenommen und produziert (!). Ich glaube, das sagt alles darüber aus, was uns hier erwartet.
Aber es gibt noch mehr befremdliche Begebenheiten. Von der in den letzten Jahren stabilen Tourband wirken Simon Townshend lediglich an einigen Backgroundvocals, John 'Rabitt' Bundrick dreimal an der Hammond-Orgel (davon nur einmal signifikant hörbar), Zak Starkey gar nur einmal am Schlagwerk (war zu der Zeit der Aufnahmen laut Herrn Townshend aushilfsweise bei Oasis beschäftigt – äh, vier Jahre lang?) und Bassist Pino Palladino hauptsächlich bei der Rock-Mini-Oper "Wire & Glass" mit, was endgültig ein suggeriertes Bandprojekt ad absurdum führt.
Musikalisch gibt es ein Ahnen-Potpourri aus "Tommy", "Who's Next", "Quadrophenia" und Townshends Zusammenarbeit mit Ronnie Lane (Rough Mix, 1977) zu Gehör, ohne im Gesamtergebnis auch nur eine Facette hinzufügen zu können.
Um ehrlich zu sein, meiner bescheidenen Meinung nach verdienen lediglich drei Titel einer herausgehobenen Erwähnung.
Da wäre zunächst "It's Not Enough" aus dem ersten Teil der Platte, welcher der Rock-Mini-Oper voraus geht, wo es erstmals richtig organisch klingend abgeht, ein toller Refrain zu bestaunen ist, Roger Daltrey veritabel intoniert und mich Pete Townshend mit einer unglaublich sägenden Gitarre im linken Kanal aus dem Tiefschlaf reißt.
Sehr gelungen ist auch das wunderbar ironisch anmutende "We Got A Hit", ausgestattet mit absoluten Ohrwurmqualitäten, aber leider nur 1:18 Minuten kurz. Sehr schade!
Und schließlich haben wir noch das fantastische "Mirror Door", was wohl für alle Ewigkeit dafür in die Geschichte eingehen wird, dass dort von dieser Welt abgetretenen Helden aus Musik- und Filmgeschäft gehuldigt wird, und dabei auch der Name Doris Day auftaucht, die sich beim Erscheinen des Albums noch bester Gesundheit erfreut haben soll. Hier ertönt erstmals die warme Orgel von John 'Rabitt' Bundrick, Pete glänzt mit gelungenen Trademark-Riffs, Daltrey singt beseelt, das Ganze hat einfach Biss und 'Zähne'. Denn leider sind große Teile des Albums zahnlos und noch darüber hinaus mäßig originell.
Was mich zum Fazit bringt. Selbiges habe ich aber bereits ganz am Anfang dieser Rezension gebracht, so dass mir nur noch die Erwähnung bleibt, dass auch die Veröffentlichungspolitik dieses Albums bei mir auf großes Befremden stößt. Wie ich schon beim aktuellen Chris Rea–Output bemängelte, gibt es ein komplett unüberschaubaren und undurchsichtigen Versions-Dickicht. Damit werden sich die großen Companies keinen Gefallen tun!
Grundstock ist eine Normalvariante, die wie bei Kollege Jürgens Rezension neunzehn Titel umfasst. Dann gibt es eine limitierte Deluxe-Edition als Doppel-CD-Ausgabe, die zusätzlich zur normalen Studio-CD eine Live-CD beinhaltet, aufgenommen am 17.07.2006 in Lyon. Und um das Chaos komplett zu machen, gibt es auch noch eine Version, die neben dem normalen Studioalbum eine DVD zu bieten hat, ebenfalls am 17.07.2006 in Lyon aufgenommen, aber im Vergleich mit der Live-CD nur mit zwei Überschneidungen. Wobei weder die Live-CD, noch die DVD auch nur annähernd das gesamte Konzert wiedergeben. Sie sollen offenbar als Appetithäppchen für ein noch kommendes Release fungieren.
Das nenne ich Verarschung am Kunden!!!
Ach ja, letztgenannte Version wartet sogar exklusiv mit zwei Extended-Versionen von "We Got A Hit" (nunmehr immerhin 3:03 Minuten) und dem Titelstück auf, welches im Übrigen irgendwie an einen gewissen Tom Petty erinnert, zumindest musikalisch.
Line-up:
Roger Daltrey (Lead Vocals)
Pete Townshend (Guitars, Bass, Banjo, Drums, Mandolin, Violin, Viola)
Zak Starkey (Drums)
Pino Palladino (Bass)
John 'Rabitt' Bundrick (Hammond Organ)
Simon Townshend (Backing Vocals)
Peter Huntington (drums)
Billy Nichols (backing vocals)
Lawrence Ball (electronic music)
Rachel Fuller (orchestral supervisor/keyboards)
Stuart Ross (bass)
Jolyon Dixon (acoustic guitars)
Tracklist
Normalausgabe:
01:Fragments (3:58)
02:A Man In A Purple Dress (4:14)
03:Mike Post Theme (4:28)
04:In The Ether (3:35)
05:Black Widow's Eyes (3:07)
06:Two Thousand Years (2:50)
07:God Speaks Of Marty Robbins (3:26)
08:It's Not Enough (4:02)
09:You Stand Me By (1:36)
Wire & Glass
10:Sound Round (1:21)
11:Pick Up The Peace (1:28)
12:Unholy Trinity (2:07)
13:Trilby's Piano (2:04)
14:Endless Wire (1:51)
15:Fragments Of Fragments (2:23)
16:We Got A Hit (1:18)
17:They Made My Dream Come True (1:13)
18:Mirror Door (4:14)
19:Tea And Theatre (3:24)
Deluxe-Edition (Import Version):
01:Fragments (3:58)
02:A man In A Purple Dress (4:14)
03:Mike Post Theme (4:28)
04:In The Ether (3:35)
05:Black Widow's Eyes (3:07)
06:Two Thousand Years (2:50)
07:God Speaks Of Marty Robbins (3:26)
08:It's Not Enough (4:02)
09:You Stand Me By (1:36)
Wire & Glass
10:Sound Round (1:21)
11:Pick Up The Peace (1:28)
12:Unholy Trinity (2:07)
13:Trilby's Piano (2:04)
14:Endless Wire (1:51)
15:Fragments Of Fragments (2:23)
16:We Got A Hit (1:18)
17:They made My Dream Come true (1:13)
18:Mirror Door (4:14)
19:Tea And Theatre (3:24)
20: We Got A Hit - Extended Version (3:03)
21: Endless Wire – Extended Wire (3:03)

Bonus DVD "Live At Lyon":
1:I Can't Explain (3:04)
2:Behind Blue Eyes (4:39)
3:Mike Post Theme (3:41)
4:Baba O'Riley (5:59)
5:Won't Get Fooled Again (10:03)
Externe Links: