"Physical Graffiti" ist in vielerlei Hinsicht ein für mich sehr persönliches Album - und eines meiner liebsten obendrein... Es war mein Schlüssel in eine neue musikalische Welt, denn - wenn ich ehrlich bin - waren mir die ersten (drei) Led Zeppelin-Alben etwas zu 'holzig'. Natürlich besaß ich sie alle und hätte diese meine Eindrücke niemals meinen co-pubertierenden Kumpels preisgegeben - für nichts in der Welt! Der Zauber dieser Aufnahmen sollte sich mir erst nach "Physical Graffti" in voller Tiefe und Breite erschließen. Vergleichbar bahnbrechende Erweckungserlebnisse hatte ich eigentlich nur mit Eat A Peach, Kansas (same), Dixie Chicken, Dregs Of The Earth, Travels, Texas Flood und Dose - ich meine diese Art von Alben, nach deren erstem Hören kein Stein mehr auf dem anderen liegt...
Genervt hatte bei Led Zeppelin eigentlich immer nur, dass die Mädels derart auf den Plant abfuhren. Natürlich nicht die Trockenfrüchtchen, die im Bay City Rollers-Karo-Look in die Schule kamen, sondern die 'Cremeschnittchen', die richtig heißen Feger. Was hat der Plant nur, was ich nicht habe, werde wohl nicht nur ich mich gefragt haben. Dass die Größe des 'Johannes' nicht zwangläufig mit der Größe der Stimme korreliert, erfuhr ich erst Jahrzehnte später im Zusammenhang mit einem gewissen 'Herrn Jäger'. Naja, es wird überall nur mit Wasser gekocht...
Die überzeugendste Kurzcharakterisierung von "Physical Graffiti" las ich einmal beim Rolling Stone. Dort war die Einschätzung zu lesen, dass sich in diesen Aufnahmen Tommy, Sgt. Pepper... und Beggars Banquet vereinen würden. Ich gehe relativ selten d'accord mit den Klassizifizierungen (und vor allem Rankings) der geschätzten Kollegen, doch könnte ich das Review an dieser Stelle mit voller Zustimmung beenden...
Natürlich haben zu einem gewissen Teil auch die Spötter Recht, wenn sie von 'Roberts Resterampe' ätzen. Nur acht Songs von "Physical Graffiti" wurden neu eingespielt, der Rest waren Outtakes von früheren Sessions. Dadurch manifestiert sich jedoch nur das enorme kreative Potenzial, das Led Zeppelin zur damaligen Zeit besaß - man möge diesbezüglich nur einmal "Coda" von 1982 als Maßstab anlegen.
Selbstredend kann ich mir hier (weitere) Lobeshymnen auf die Qualitäten der vier Musiker sparen. Jeder weiß, dass Plants göttliche Stimme purer Sex, Bonzos polterndes Schlagwerk einzigartig, ja unnachahmlich und Pages Gitarrenarbeit ihrer Zeit weit voraus waren. Auch, dass es der Multiinstrumentalist Jones war, der den Laden dieser drei Egozentriker musikalisch zusammenhielt, dürfte wohlbekannt sein und muss nicht näher erläutert werden. Auch das megalithische "Kashmir", neben "Stairway To Heaven" DAS herausragende Unikat Led Zeppelins, bedarf keiner weiteren Glorifizierung... all dies kann man sich schenken!
Nein, es sind die schöpferische Vielfaltigkeit auf gleichbleibend hohem Niveau und vor allem die visionäre Aufbruchstimmung, die "Physical Graffiti" zu einem Monument der Musikgeschichte stilisieren.
Die eröffnenden "Custard Pie" und "The Rover" veranschaulichen diese visionäre Kühnheit Led Zeppelins: das eine ein Vorgriff auf Another Mother Further - das andere auf Eliminator. Der elfminütige Power-Blues "In My Time Of Dying" überzieht nicht eine Sekunde. "Houses Of The Holy", das es nicht auf den gleich betitelten Vorgänger geschafft hatte, besticht durch einen deutlichen Glam-Faktor - Plant 'kräht' hier absolut authentisch in Noddy Holder-Manier. Das funkige "Trampled Under Foot", mit einem glänzenden John Paul Jones am Hohner Clavinet, gehört für mich persönlich sowieso in die "Stairway..."/"Kashmir"-Kategorie - also outstanding, übrigens ebenso wie das später folgende "Ten Years Gone".
[Apropos JPJ: Auf "Physical Graffiti" verlässt er sich (noch) vorwiegend auf analoge Keyboards wie elektrische und akustische Pianos, Hammond, Clavinet und Mellotron, was den Songs eine sehr wärmende Note verleiht. Die später etwas ausufernden Synthesizerspielereien beschränken sich hier weitgehend auf Streicherarrangements.]
Das traumhaft-himmlische "In The Light" nimmt das walisische Feeling der legendären Aufnahmesessions in Pages Cottage Bron-Yr-Aur (nahe Gwynedd gelegen) auf - man merkt gleich: Die Druideninsel Anglesey/Ynys Môn ist (auch geografisch) nicht mehr fern, woran das folkige Zwischenspiel "Bron-Yr-Aur" perfekt anknüpft!
"Down By The Seaside" und "Night Flight" nehmen reichlich flower-power-haltiges Westcoast-Feeling auf. Rumpelnd ballert "The Wanton Song" daher, von manchen Kritikern ebenso als Füllsel bezeichnet wie der folgende "Boogie With Stu". Ersterer ist allerdings absolut LZ-typisch und der Zweite allein schon wegen Ian Stewarts Boogie Woogie-Piano, auf einem leicht verstimmten Barklavier geklimpert, absolut hörenswert. Doch diese Stimmen sollten bei den abschließenden "Black Country Woman", einem sehr eigenwillig interpretierten (akustischen) Country Blues, und "Sick Again", einer weiteren charakteristisch großen Geste, schnell verstummt sein. Ich jedenfalls fand nie, dass - wie seinerzeit oft zu hören und lesen war - der vierten Vinyl-Seite etwas 'die Luft ausgehen' würde...
Die dritte CD stellt einen sehr interessanten Blick in die Archive Led Zepps dar. Hier werden Anfangs-/Ausgangsversionen oder weitgehend unbearbeitete Abmischungen präsentiert. Frühe Aufnahmen von "Trampled Under Foot" (damals noch "Brandy & Coke" betitelt) und "In The Light" (nannte sich zuerst "Everybody Makes It Through") sind ebenso zu finden wie sehr raue Mixes von "Houses Of The Holy" oder "Kashmir", das seinerzeit (1973) noch "Driving Through Kashmir" hieß. Eine schöne Werkschau...
Die zur Besprechung vorliegende "40th Anniversary Deluxe Edition" ist liebevoll bis ins Detail dem Vinyl nachempfunden worden, ohne natürlich - dem Format geschuldet - deren Reiz übertreffen zu können. Ein 16-seitiges Booklet mit sehr schönen Fotos und einigen (kurzen) Hintergrundinfos zu den Songs auf der Companion-Disk runden diese sehr gelungene und empfehlenswerte Veröffentlichung gekonnt ab.
Musik kann man schlecht in aseptischen und/oder 'luftleeren' Räumen sezieren. Sie löst vielmehr Erinnerungen und kann längst vergessen geglaubte oder sogar völlig neue Gefühle wecken... Kurzer Sinn der langen Rede: Es gibt Alben, die man einfach nicht en passant besprechen kann. Eines davon ist fraglos "Physical Graffiti"...
Line-up:
Robert Plant (lead vocals, harmonica, acoustic guitar - 2/#7, 3/#6)
Jimmy Page (electric, acoustic, lap steel and slide guitars, mandolin)
John Paul Jones (bass, pianos, mellotron, VCS3 synthesiser, string arrangements, Hohner clavinet, Hammond)
John Bonham (drums, percussion)
Ian Stewart (piano - 2/#7, 3/#6)
Tracklist |
CD 1:
01:Custard Pie (4:13)
02:The Rover (5:37)
03:In My Time Of Dying (11:04)
04:Houses Of The Holy (4:02)
05:Trampled Under Foot (5:37)
06:Kashmir (8:32)
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CD 2:
01:In The Light (8:46)
02:Bron-Yr-Aur (2:06)
03:Down By The Seaside (5:13)
04:Ten Years Gone (6:32)
05:Night Flight (3:36)
06:The Wanton Song (4:10)
07:Boogie With Stu (3:53)
08:Black Country Woman (4:24)
09:Sick Again (4:42)
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CD 3 - Companion Audio:
01:Brandy & Coke (Trampled Under Foot)
[Initial Rough Mix] (5:39)
02:Sick Again
[Early Version] (2:23)
03:In My Time Of Dying
[Initial Rough Mix] (10:48)
04:Houses Of The Holy
[Rough Mix with Overdubs] (3:52)
05:Everybody Makes It Through (In The Light)
[Early Version/In Transit] (6:29)
06:Boogie With Stu
[Sunset Studio Mix] (3:40)
07:Driving Through Kashmir (Kashmir)
[Rough Orchestra Mix] (8:41)
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Externe Links:
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