Editorial / Februar 2012



Editorial vom 01.02.2012


Steve Braun
»Was wir hier erleben, schadet nicht nur dem Ansehen der Politik, sondern berührt in ganz besonderer Weise auch die Würde eines hohen politischen Amtes.« (Christian Wulff im November 1999 über den niedersächsischen SPD-Ministerpräsidenten Gerhard Glogowski, der später über diese Affäre um unbezahlte Urlaube und gesponserte Hochzeitsfeiern stürzte.)
Das neue Jahr fing noch sehr viel schlechter an, als allgemein befürchtet. Als ob es mit der Affäre Guttenberg im vergangenen Jahr nicht ein Paradebeispiel dafür gegeben hätte, wie ein Politiker eine Krise eben nicht handhaben sollte, stürzte sich der amtierende Bundespräsident in eine tiefe Vertrauenskrise, aus der er sich kaum noch befreien dürfte.
Reflexartig wird mal wieder die Presse der Hetz- und Treibjagd bezichtigt und das böse Wort einer 'Medienkampagne' macht die Runde. Hier muss ich mal eine Lanze für die Kollegen brechen: Eine Kampagne setzt ja voraus, dass da jemand für die Dramaturgie verantwortlich ist, das Ganze also steuert. Kein informierter Mensch kann glauben, dass Blätter wie die FAZ, die Welt, Financial Times oder das Handelsblatt allen Ernstes mit der taz, der Sueddeutschen oder dem Spiegel gemeinsame Sache machen würden - die sind sich spinnefeind! Sie alle kommen aber in ihren Leitartikeln zur gleichen Schlussfolgerung: Der Bundespräsident hat durch sein Verhalten das Amt beschädigt und er solle die Konsequenzen ziehen. Nicht die Medien beschädigen den Bundespräsidenten - dafür sorgt er schon selbst!
Warum ich persönlich stinksauer bin? Wegen des Privatkredits? Iwo, tatsächlich sollte man sich von einem echten (!!) Freund Geld zu einem vernünftigen Zinssatz leihen können! Wegen des nicht ausgeräumten Verdachts der Vorteilsnahme? Haarscharf, aber Wulff war nicht der erste und ist ganz sicher nicht der letzte Ministerpräsident, der zu eng mit 'Amigos' verbandelt war. Wegen des überaus dämlichen Drohanrufs? Zugegeben, wie blöd darf ein Bundespräsi eigentlich sein - aber rein menschlich gerade noch nachvollziehbar. Welcher RockTimes-Leser würde nicht gerne mal auf Ilkas Mailbox 'wulffen', weil wir seine Lieblingsplatte verrissen oder seinen All-Time-Fave in den News durch den Kakao gezogen haben, will ich mal augenzwinkernd anmerken.
Nein, richtig sauer bin ich auf den Wulff, weil ab jetzt die BILD als Hüterin der Meinungsfreiheit glänzen darf. Ausgerechnet das Schmierblatt, das seit Jahrzehnten mit der Not und dem Elend 'normaler' Menschen Auflage und Kasse macht - die unzähligen Gerichtsverfahren, zumeist elegant als 'Vergleich' gelöst, sprechen da eine deutliche Sprache.
Egal, unflätiges Verhalten hin - Korruptionsverdacht her: Der Hausherr hat Schloss Bellevue zur Wulffsschanze ausgebaut, den Helm fester gezurrt und hofft nun auf das Ende des - wie er sagt - Stahlgewitters. So kann man noch locker drei Jahre im Amt ausharren, denn: »Ist der Ruf erst ruiniert...«
Wer bezahlte die Promotion seines Buches "Besser die Wahrheit"? Christian Wulff will davon nichts gewusst haben. Diverse Upgrades oder 'Rent a President'? Wulff hat keine Ahnung. Was wusste er von Glaesekers Machenschaften? Ihr kennt die Antwort... Schwierig, ihm das Gegenteil nachzuweisen, aber war da nicht was? »Ich habe eingesehen: Nicht alles was juristisch rechtens ist, ist auch richtig...« (Wulff am 22. Dezember über Wulff). Eine nette, leider aber derzeit noch völlig hohle Worthülse, wie so vieles an diesem Präsidenten...
Ein Politikwissenschaftler hat einmal angemerkt, dass die Politik nur ein Spiegelbild der Gesellschaft sein könne. Nun haben also die gesellschaftlichen Realitäten auch das höchste deutsche Staatsamt ereilt. Haben wir also mit unserer 'Geiz-ist-geil'-Mentalität nichts besseres verdient? Ich hoffe inständig nicht, denn dann wäre das Amt des Bundespräsidenten wirklich nachhaltig beschädigt.
Aber auch die Musikwelt gab mal wieder allseits Grund zum Kopfschütteln wie gleichermaßen Hohngelächter! Drei Beispiele will ich mal rauspicken:
Van Halen is back... und das standesgemäß. Will sagen: mit einem irrwitzigen medialen Aufruhr. Einmal mehr ließen sich hier die Online-Medien auf der Suche nach der Schlagzeile bereitwillig an der Nase herumführen. Bis zum Erbrechen wurde spekuliert, ob die Band im Studio sei oder nicht. Immer wieder wurden gezielt Gerüchte aus dem Umfeld der Band gestreut, die die Gier der Fans anheizen sollten, letztlich aber lediglich allseits nervten. Zur 'Ehrenrettung' Van Halens muss gesagt werden, dass sich andere Bands ebenfalls gerne dieser Unsitte bedienen. Aktuell seien hier Aerosmith und Black Sabbath genannt. Ob hier drei Rohrkrepierer à la Chinese Democracy oder Klasse-Alben auf uns warten, muss die Zeit zeigen. Van Halens "A Different Kind Of Truth" hat dazu ab dem 3. Februar Gelegenheit. Die bereits veröffentlichte Single "Tattoo" ist jedenfalls schon mal alles andere als ein großer Wurf.
Kaum waren die ersten Töne schnipselweise im Netz, kamen auch schon die ersten, durchaus hässlichen Plagiatsvorwürfe auf. Sammy Hagar und Michael Anthony kam jedenfalls das, was sie zu hören glaubten, durchaus bekannt vor. Abgesehen davon, dass solches öffentliches Schmutzwäsche reinigen ziemlich schäbig ist, kann man so einiges durchaus nachvollziehen, wenn man mal den kreativen Output der Herren Eddie Van Halen und David Lee Roth in den letzten Jahren (war da was?) Revue passieren lässt. Es ist wohl ähnlich wie bei Wulff: beweisen kann man zwar wenig, glaubhaft vorstellen aber so einiges. Unstrittig ist dagegen die auffällige Ähnlichkeit des "A Different Kind Of Truth"-Covers mit dem von "Movin' On", dem 1975er Album der Commodores. Das hätte spätestens einem verantwortlichen Mitarbeiter von Universal, der Plattenfirma, auffallen müssen. Aber Van Halen daraus 'einen Strick zu drehen' wäre ziemlich albern.
Da verursacht das 'Aufbretzeln' eines 28 Jahre alten Songs ("Ripley"), der dann unter dem Titel "Blood And Fire" als brandneu verkauft wird, schon eher Stirnrunzeln. Da kommt einem der hämische Spott Sammys in den Sinn, der sich mehrfach abfällig aber aufschlussreich über Kreativität und Arbeitsmoral Eddies ausgelassen hat. Das alles ist Wasser auf die Mühlen derer, die Van Halen schon immer für leicht überbewertet gehalten haben.
Ebenso zum Brüllen reizte die Nachricht, dass Kid Rock von fanatischen Gesundheitsaposteln während seines Konzertes in seiner Heimatstadt Detroit beschimpft wurde. Er hatte es doch im vergangenen Monat tatsächlich gewagt, sich - welch' Schande, auf der Bühne stehend - eine Fluppe anzuzünden. Eine asthmatische Krankenschwester will ihn sogar verklagen. Und das Größte kommt noch: Kid Rock entschuldigt sich! Und - einer geht noch - begründet sein 'Fehlverhalten' mit 'übermäßigem Alkoholkonsum'!! Herr der Himmel und Höllen: Wie tief kann der Rock'n'Roll denn noch sinken?!? Sollen uns nur noch veganische Abstinenzler, denen die schöne Redensart »Fuck you!!« nicht mehr geläufig ist und die nicht wie Dickey Betts auch mal gepflegt auf die Bühne rotzen, wenn sie genervt sind, terrorisieren? Wollen wir den Rock'n'Roll in Hände wie die des schmierigen Brüderpaares Gallagher abgeben??
Schnell ist man bereit, diesen Fanatismus auf jenes seltsame Land jenseits des großen Teiches zu reduzieren. Ich meine jene bigotte Gesellschaft, in der man zwar öffentlich unter keinen Umständen 'Fuck' sagen darf, gleichzeitig aber so viele Pornos wie nirgendwo auf dieser Erde konsumiert werden. Dieser breite Landstrich, in dem sich 'Gott' zwar persönlich niedergelassen hat, aber öffentlich gemordet werden darf und jeder, so er will, sich daran ergötzen darf. Hoffentlich wird man in der Geburtsstätte des Rock'nRoll zukünftig ehrlich-bedröhnte Rocker nicht nur in der Rock'n'Roll Hall of Fame bestaunen dürfen, wie eine ausgestorbene Spezies im Museum...
Noch ein Lacher, diesmal einer der bitteren Sorte, gefällig? Gary Glitter, ein verurteilter Sexualstraftäter und Kinderschänder, plant ein Comeback. Eine Autobiografie, remasterte Alben und eine Worldtour kündigt der ehemalige Glam-Rocker an. Paul Gadd, wie der alternde Glitterboy in seinen vielen Gerichtsakten genannt wird, glaubt, sein Publikum hätte akzeptiert, dass er seine Vergangenheit hinter sich gelassen habe. Diese ist durchaus wert, noch einmal in Erinnerung gerufen zu werden:
In England wurde Paul Gadd 1998 wegen des Besitzes kinderpornografischen Materials zu vier Monaten Haft verurteilt, die er auch antreten musste. Nach der Haft verließ er das Land - die freie Presse, die ihm auf seine Finger schauen und aus gutem Grund auch auf sein Geschlechtsteil achten wollte, immer auf den Fersen. In Kambodscha versuchte Gadd einen Neuanfang, wurde allerdings 2002 wegen des Verdachts des Kindesmissbrauchs ausgewiesen. In Vietnam fand er daraufhin sein 'Paradies' und glaubte, ungestraft mit einer 15-jährigen Jugendlichen in einer eheähnlichen Beziehung zusammenleben zu können. Als dies bekannt wurde, erfolgte allerdings 2005 die Verhaftung. Im folgenden wurde Gadd obendrein angeklagt, zwei zehn- bzw. elfjährige Mädchen missbraucht zu haben. Auf diese Vergehen steht in Vietnam die Todesstrafe. Nach nachweislichen Zahlungen von 2000 Dollar an die Eltern der Mädchen, wurde die Anklage auf 'unsittliche Berührung' abgemildert. Es folgte die Verurteilung zu einer Haftstrafe von drei Jahren. Nach der Verbüßung wurde der Lustmolch nach England abgeschoben. Dort ist Paul Gadd als Sexualstraftäter registriert und lebt unter strengen Auflagen - dazu zählt, dass er das Land nicht verlassen darf.
Und so einer wagt ein Comeback? Ist der von allen guten 'Wulffen' verlassen? Ist Gary Glitter einfach nur frech oder leidet er an Realitätsverlust? Ich glaube, da ist schlichtweg einer, der überhaupt kein Schuldbewusstsein hat! Einer, der den nach dieser Vorgeschichte widerwärtig-schmierigen Beigeschmack seiner Welthits "Don't Touch Me There" oder "Do You Wanna Touch Me" nicht nachvollziehen kann. Noch hat der von jeglichem Glitzern Befreite keinen Plattenvertrag und ich hoffe, dass das auch so bleibt!!
Immer wieder sind in unseren Monatsrückspiegeln Krankheits- und Todesfälle zu beklagen. Da macht auch das neue Jahr (leider) keine Ausnahme:
Der Tod des Iron Butterfly-Gitarristen Larry 'El Rhino' Reinhardt (63) ist ebenso zu beklagen, wie der der erst 27-jährigen Nicole Bogner. Die Visions Of Atlantis-Sängerin erlag einem aggressiven Krebsleiden. Der ehemalige Fleetwood Mac-Gitarrist Bob Weston ging ebenso von uns, wie der Ex-UFO Robbie France. Der nur 52 Jahre alte Drummer verblutete in Folge eines Risses der Aorta (Hauptschlagader) innerhalb kürzester Zeit innerlich. Und vor wenigen Tagen erlag das Riot-Gründungsmitglied Mark Reale nach tagelangem Koma, lediglich 56-jährig, einer Hirnblutung.
All dies überschattete allerdings der Tod der R&B-Legende Etta James. Die mit einer herrlichen Stimme begnadete Sängerin wurde am 20. Januar von einem monatelangen Leiden - man ist geneigt zu sagen, Todeskampf - fünf Tage vor ihrem 74. Geburtstag erlöst. Sie litt am Leukämie, Hepatitis C und schwerer Demenz, stand mehrfach vor einem kompletten Nierenversagen und musste teilweise künstlich beatmet werden. Sie starb nun an den Folgen einer schweren Lungenentzündung.
Etta James war das beste 'Pferd' im Chess Records-Stall, für den sie in den Sechzigern Hit auf Hit landete. Wer - bitte schön - hat jemals lasziver I Just Wanna Make Love To You gesungen? Aber auch alle Tiefen des Business hatte die Diva ausgekostet. So wäre sie in den Siebzigern beinahe ein Opfer ihrer Heroinsucht geworden. Nach einem gelungenen Entzug widmete sich die James zahlreichen Drogenhilfe-Projekten.
Grammies sammelte die Grande Dame wie andere Briefmarken. 2003 bekam sie als Höhepunkt ihrer Karriere einen Grammy für ihr Lebenswerk. Völlig klar, dass Etta James auch in die Rock'n'Roll- und Blues Hall of Fame aufgenommen wurde.
Nachdem sie zwei Jahre zuvor mit "Blues To The Bone" noch einmal einen richtigen Knaller vorgelegt hatte, nahm sie 2006 mit "All The Way" ihr letztes Album auf. Bereits damals war sie von einer beginnenden Demenz gezeichnet. Später brach eine alte Hepatits C-Infektion noch einmal aus und - als ob das nicht genug Leid wäre - kam noch eine Leukämieerkrankung hinzu. In den letzten eineinhalb Jahren kämpfte Etta James um ihr Leben... besser gesagt: gegen ihr Leben. Unzählige Krankenhausaufenthalte, Atemstillstände, Nierenversagen, Bettlägerigkeit, komatöse Zustände, umfassende Pflegebedürftigkeit und letztendlich weitgehende geistige Umnachtung - da kann der Tod schon zu einem gnädigen Retter werden... Wir alle werden die göttliche Etta James niemals vergessen!!!
Zwischen all dem Irr- und Wahnsinn haben wir im vergangenen Monat das 10000. (in Worten: zehntausendste!) Review online gestellt und dies mit einer Verlosung auf unserer Facebook-Seite gefeiert. Aber es bleibt keine Zeit für unangebrachte Selbstbeweihräucherung. Reviews und Konzertberichte sind schließlich nur die eine Hälfte eines Magazins. Die andere stellen bei einem guten Vertreter die News, Tourdaten, solche Zwischenrufe und - nebenbei bemerkt - diese monatlichen Editorials dar. Da ist RockTimes gut aufgestellt - es gilt allerdings, diesen Standard zu halten! Womit der Rückspiegel elegant auf das Review-Geschehen im Januar ausgerichtet wäre.
Neben den großen Namen wie Slash, Rod Stewart, Paul Rodgers, Paulchen McCartney und
Gov't Mule, mit der Besprechung ihres herrlichen New-Year-Eve 2011/12, sorgten - wie eigentlich immer - die relativ unbekannten Bands für die positivsten Schlagzeilen. Und da war (mal wieder) die gesamte Bandbreite von zart bis brutal vertreten, seien es 'Zupfgeigenhansel' wie Michael Fracasso oder Abschädel-Metaller wie Desaster - schräge Vögel wie Jimmy G-Punkt oder poetische Schöngeister vom Schlag Frequency Drift. Aber die RockTimes-Leser sind ja für ihre offenen Ohren und ihre Blicke über den berüchtigten Tellerrand hinaus bekannt...
Letzte Meldung kurz vor Monatsende: Der Rolling Stone und der Musikexpress bekommen neue Chefredakteure. Rainer Schmidt, der beide Posten innehatte, übergibt die Staffel an Sebastian Zabel (RS) und Severin Mevissen (ME). Verfluchter Mist, diese Stellenausschreibung hatte ich nicht auf dem Schirm! [Journalisten können nämlich noch besser 'wulffen' als Minister- oder gar Bundespräsidenten - und vor allem: sie brauchen sich nicht zu genieren!!] Ich hätte mal meinen Fuhrpark runderneuern können - bei BMW, Daimler und Audi gips nämlich 15% Rabatt auf Neuwagen. Bei Air Berlin gips 25% auf alle internationalen Flüge und wenn man sich schickt, zahlt vielleicht EMI oder Sony sogar das Upgrade in die Business Class. Das neueste Telefonspielzeug gefällig? Bis zu 35% gespart - der Vertrag dazu macht nochmal 50%, herrlich! Designermöbel, Maßkonfektion, Wellness, Golfen, Wein - einfach mal hemmungslos einen auf spätrömische Dekadenz machen...
Jetzt muss ich halt vorerst weiter mein Dasein bei RockTimes fristen: unabhängig, kritikfreudig, mit einem Arsch voll Arbeit, aber dafür völlig bargeldlos. Jede Menge Musik von frischen, aufstrebenden Bands abseits des Mainstream-Mülls als Entschädigung, aber leider mit ebenso hungrigem Magen wie der dieser Musikidealisten rezensiert. In diesem Sinne:
Keep it real, keep it southern!
Euer Steve
Externe Links: