Editorial / Juli 2012



Editorial vom 01.07.2012


Mike Kempf
Aus dieser Geschichte kommt mein Kollege Holger Ott nicht so leicht heraus. Hat er sich beim diesjährigen April-Editorial doch als waschechter Berliner geoutet. Mutig, ja sogar sehr mutig! Denn wer gibt schon freiwillig zu, dass er ein Hauptstädter ist? Wo doch beim öffentlichen Nahverkehr, speziell der S-Bahn, das reinste Chaos herrscht? Berlins regierender Bürgermeister erst großspurig die Öffnung des neuen Großflughafens BER (Flughafen Berlin Brandenburg) für den vergangenen 3. Juni angekündigt hatte, diese aber erstmal um ein gutes Dreivierteljahr nach hinten verschieben musste, und die x-te geplante Eröffnungsparty für den 17. März 2013 terminierte (Angabe ohne Gewähr!)? Nebenbei die Kosten aufs fast dreifache des veranschlagten Etats von eineinhalb Milliarden auf über vier Milliarden Euro herangewachsen sind? Ja sicher, der Steuerzahler wird's schon richten. An sich auch kein Problem, wenn jeder Bürger die gleichen Diäten beziehen würde, wie Berlins »Und das ist auch gut so«-Bürgermeister. Nebenbei setzten die Fußballer des einstigen Berliner Erstligisten alles daran, um künftig wieder zweitklassig zu agieren. Falls es mal eng wurde, dann wurde mal eben die Kugel ins eigene Netz bugsiert - Bravo! Nun gut, mittlerweile wird der Leser der oberen Zeilen gemerkt haben, das auch ich ein Berliner bin, sorry...
Während heute Abend vierundvierzig Beine versuchen die Lederpille zum entscheidenden Treffer ins Netz zu jagen, um den Europameister 2012 zu ermitteln, stehen bereits die olympischen Sommerspiele (London) in den Startlöchern. Schade, dass in den Disziplinen 'Gitarren-Wurf', 'Stick-Hochsprung', 'Bass-Stoßen' oder 'Keyboard-Surfen' kein Edelmetall vergeben wird. Diese Wettkämpfe würden garantiert die Einschaltquoten erheblich steigern, vor allem die Musikfreunde zufrieden stellen und ich hätte sogar ein paar Geheimtipps parat.
Doch bevor ich vollends dem Politik- und Fußballwahnsinn verfalle, konzentriere ich mich auf das, worauf es unserem Magazin ankommt - Gute Musik. Rein musikalisch betrachtet, fing der vergangene Monat mit zwei Geburtstagen an. Konstantin Wecker und Ron Wood feierten ihren Fünfundsechzigsten. Herzlichen Glückwunsch! Wen interessiert es da eigentlich, dass am selben Tag Ingo Siara, einer meiner Lieblingsbassisten und Mitglied bei Get Stoned und Jimmy G. ebenfalls seinen Ehrentag feierte? Alles Interessante, mehr oder weniger, richtet sich eben nach dem Bekanntheitsgrad des jeweiligen Musikers. Denn wenn Rockikone Paul McCartney seinen Siebzigsten oder Campino von den Toten Hosen seinen Fünfzigsten feiert, will es die ganze Musikwelt wissen. Beide Ereignisse fanden auch im Juni statt.
Die Monatsserie der Inselplatten wurde von mir mit House Of Sins von Knock Out Kaine höchstpersönlich eröffnet. Es folgten mit The Place I Left Behind meines Kollegen Wolfgang, von Andrea Mundus Numen und von Markus Banga noch weitere Top-Alben mit der Tipp-Grafik.
Vor der alljährlichen Sommerpause ging unser Redaktionsteam zu etlichen Konzerten, dabei wurde aus fast jedem Winkel unser Republik berichtet. Aus meinem Heimatort gab es Reportagen von Vdelli, Lynyrd Skynyrd und Mötley Crüe. Des weiteren gab es von Ian Siegal, Grolsch-Festival, Haindling, Go Music, American Aquarium, Rock Hard, Magic Bike Rüdesheim, Guns N' Roses, Jessy Martens Band, Nightqueen CD-Release und Blue Öyster Cult erstklassige Nachlesen. Man ziehe sich nur das Rock Hard-Festival rein. Kann man von einem Event ausführlicher berichten? Ich glaube kaum.
Zu unserem Job gehört es auch, die Musiker in die Mangel zu nehmen, sofern sie es zulassen. Die, die sich dem Frage- und Antwortspiel unserer Redakteure zur Verfügung stellten, trugen zu tollen Interviews bei. Als da wären Superfloor, Michael Vdelli, Hartwig Biereichel und Carl Delius.
Unsere News-Abteilung hatte leider auch traurige Nachrichten zu vermelden. Dazu gehörte die Nachricht der Schließung des Beatle-mania auf St. Pauli genauso, wie der diagnostizierte Hirntumor bei Sheryl Crow. Auch um die Todesmeldungen von Herb Reed (The Platters), George Marino, Bob Welch, Pete Cosey, Lou Pride, Tim Mooney, Jimmy Elledge, Gerry Brown, sowie der Tod eines Radiohead-Roadie, der bei einem unfassbaren Bühneneinsturz in Toronto sein Leben lassen musste, kam unsere Berichterstattung nicht herum. Mögen sie nun alle in Frieden ruhen.
Habe ich mich anfänglich über Berlin etwas ausgelassen, möchte ich bei aller schlechten Kritik über Wowereit & Co. sowie Berlins blau-weißen Fußball-Assen auch einige positive Sachen aufzählen, die ein Leben in dieser Großstadt sehr reizvoll machen.
Neben vielen Seen, zahlreichen Baumalleen und wunderschönen Parkanlagen, ist das kulturelle Angebot der Stadt deutschlandweit unschlagbar. Jeden Tag kann man hier ins Kino, ins Theater, ins Museum gehen oder sich gleich mehrere Konzerte reinziehen. Viele Stars der Musikszene geben sich in Berlin die Klinke in die Hand, spielen mal hier, mal dort und wenn mal keine passende Location (was sehr selten vorkommt) zur Verfügung steht, dann kann es passieren, dass Blues Rock-Ass Joe Bonamassa im Kreuzberger 'Edel'-Punkschuppen, dem Wild At Heart spielt. So geschehen am 29. August 2006. Damals stand der gute Joe gerade am Anfang seines kometenhaften Aufstiegs und das Ticket war mit zwanzig Euro auch für die erschwinglich, die sich mit Hartz-IV über Wasser hielten. Fünf Jahre später musste ich im Amsterdamer Carré für einen Bonamassa-Gig fast siebzig Euro für eine Eintrittskarte berappen. Doch auch hier regelt das Angebot und die Nachfrage das Geschäft. Deshalb kann ich Bonamassa auch keinen Vorwurf machen, wenn seine Saat aufgegangen ist und er nun die fette Ernte einstreicht. Mir ist nur aufgefallen, dass der nicht gut situierte Rockfan, der oftmals über ein hervorragendes Musikverständnis verfügt, heute meist auf der Strecke bleibt. Er, der gerade seinen Lieblingen seit den Anfängen der Karriere die Treue hält und mit dafür sorgt, dass diese zu Stars aufsteigen, soll von nun an seinen 'Liebling' nur noch auf Youtube bestaunen können. Ich frage mich, warum ein über alle Maßen erfolgreicher Musiker noch nicht auf den Gedanken gekommen ist, diese Treue der einstigen (fachkundigen) Fans mit einem preiswerten Konzert zu danken? Man stelle sich vor: Bruce Springsteen füllt an einem Tag das Olympiastadion, um einen Tag später für die ärmsten der Stadt ein für ihn kostendeckendes Konzert anzubieten? Warum eigentlich nicht? In diesem Sinne, wünsche ich allen Lesern tolle Sommerferien.
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